Woher wissen Fahrradhersteller eigentlich, welchen Fahrradtyp Menschen am liebsten fahren würden? Oder welche Funktionen ein Fahrrad bieten sollte? Verrät das die eigene Marketingabteilung? Das Bauchgefühl der leitenden Mitarbeitenden?
Entscheidungen bezüglich der Entwicklung künftiger Fahrräder sollten stärker auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Und zwar auch auf sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen. Die scheinen sich fünf Forschende der Wolfson School of Mechanical, Electrical and Manufacturing Engineering an der Loughborough University gesagt zu haben. Sie befragten über 600 Menschen und wollten wissen: Welche Merkmale sollten Bikes der Zukunft aufweisen, damit sie von einer breiteren Masse als vielfältige und nachhaltige Verkehrsmittel geschätzt und gefahren werden? Die Ergebnisse dieser Untersuchung sollen explizit an die Industrie zurückgespielt werden. Wobei der Fokus ganz bewusst auf für ein städtisches Umfeld geeigneten E-Bikes lag.
Was wird an Sicherheit und Komfort gewünscht?
Als Ausgangspunkt diente eine Liste an speziellen Funktionen, welche die Forschenden grob den beiden Bereichen Komfort und Sicherheit zuordneten. Die Befragten sollten darunter die jeweils drei von ihnen am meisten bevorzugten Merkmale auswählen. Damit unmissverständlich klar wurde, was unter welcher Funktion zu verstehen ist, erhielten die Befragten detaillierte Beschreibungen. Verteilt wurde die Umfrage per E-Mail in der gesamten Loughborough University sowie online in verschiedenen prominenten Fahrradforen wie Bikeradar, Cyclechat und CyclingUK veröffentlicht. Insgesamt beteiligten sich 638 Menschen. Anhand ihrer Antworten ermittelten die Forschenden die Wichtigkeit der verschiedenen Funktionen.
Unter den folgenden Funktionen konnten die Teilnehmenden wählen:
Wünschenswerte Komfortfunktionen:
- CF1 – Automatische Beleuchtung: Sensor zum Einschalten der Beleuchtung bei Dunkelheit, z. B. in Tunneln und/oder zur Nachtzeit
- CF2 – Automatische Diebstahlsicherung: Blockieren der Laufräder durch das Deaktivieren des Motors, um Diebstahl zu verhindern, sobald die E-Bikes abgestellt werden.
- CF3 – Berganfahrhilfe: Zusätzliche Unterstützung beim Erklimmen von Steigungen
- CF4 – Beheizte Handbereiche: Beheizte Bereiche am Lenker und den Bremshebeln für Fahrten im Winter
- CF5 – Regeneratives Bremsen: Laden des Akkus bei Betätigung der Bremsen
- CF6 – Starthilfe im Stehen: Leistungsschub beim Anfahren aus dem Stand, z. B. nach dem Anhalten an Kreuzungen
- CF7 – Verschiedene Unterstützungsmodi: Wählbare Modi mit verschiedener Intensität an Unterstützung
Wünschenswerte Sicherheitsfunktionen:
- SF1 – Toter-Winkel-Warnung: Macht Fahrerende anderer Fahrzeuge auf E-Bike-Fahrenden aufmerksam.
- SF2 – Bremslichter und Blinker: Zeigen anderen am Verkehr Teilnehmenden das eigene Bremsen und bevorstehende Abbiegen an, ähnlich wie bei einem Auto.
- SF3 – Eingebaute Kamera: Aufnahmegerät bei Zwischenfällen ähnlich einer Dashcam im Auto.
- SF4 – Hupe: Weist andere am Verkehr Teilnehmende auf die Radfahrenden hin.
- SF5 – Nachricht zur Wartung: Hinweis auf Reifendruck, Bremsenverschleiß, Reifenverschleiß und Ähnliches
- SF6 – Hinderniswarnung: Sensor warnt vor Hindernissen auf Bodenhöhe, z. B. vor Schlaglöchern und unebener Oberfläche.
- SF7 – Hinterer Annäherungssensor: Sensor warnt vor Fahrzeugen, die sich von hinten nähern.
Mancher Wunsch schon Realität
Beim Überfliegen der Punkte fällt euch vermutlich auch ins Auge, dass einige davon in der Praxis bereits umgesetzt werden. Beispielsweise finden sich bei E-Bikes bereits integrierte Sensoren, die den automatischen Wechsel zwischen Tag- und Nachtfahrlicht ermöglichen. In Sachen automatischer Diebstahlsicherung gibt es diverse Apps, die auf die beschriebene Weise funktionieren. Da kommt einem etwa der Lock-Modus bei den Displays Kiox und Nyon von Bosch in den Sinn. Manche Motoren von E-Bikes arbeiten mit dem Prinzip der Rekuperation und speisen so den Akku mit neuer Energie. Unterstützungsstufen mit verschiedener Leistungsstärke, wie bei Komfortfunktion CF7 genannt, sind längst etabliert. Auch das automatische Warnen vor Fahrzeugen, die sich dem E-Bike schnell von hinten nähern, ist bei weitem keine Fiktion mehr. Cannondale hat ein solches Feature mit dem Radarwarnsystem Varia von Garmin aktuell am Adventure Neo und Mavaro Neo verbaut.
Sicherheit und Komfort gleichermaßen wichtig
Menschen möchten künftig während der Fahrt mehr darüber wissen, was am E-Bike selbst als auch in der unmittelbaren Umgebung passiert. Dies legen die Ergebnisse der Untersuchung nahe. Auf das größte Interesse stießen bei den Sicherheitsmerkmalen Bremslichter und -blinker, die integrierte Kamera sowie die Toter-Winkel-Warnung. Beim Komfort wünschten sich die meisten Befragten eine Hilfe bei dem Anfahren an Steigungen und das regenerative Bremsen. Insgesamt interessierten sich die Menschen in ungefähr gleichem Maße für Sicherheits- als auch Komfortfunktionen.
Das Mehr an Komfort und Sicherheit soll aber nicht mehr kosten. Kommende Generationen von E-Bikes dürfen aus Sicht der Befragten gern günstiger ausfallen. Umgerechnet zwischen rund 1.150 Euro und 1.750 Euro erachten mehr als die Hälfte der Teilnehmenden als erstrebenswerten Preis. Für gerade einmal 13 Prozent sind mehr als 2.300 Euro in Ordnung.
Top3 der gewünschten Komfortfunktionen:
- Platz 1: CF3 – Berganfahrhilfe
- Platz 2: CF5 – Regeneratives Bremsen
- Platz 3: CF7 – Verschiedene Unterstützungsmodi
Top3 der gewünschten Sicherheitsfunktionen:
- Platz 1: SF2 – Bremslichter und Blinker
- Platz 2: SF1 – Toter-Winkel-Warnung
- Platz 3: SF3 – Eingebaute Kamera
Plädoyer für flexible Ansätze
Bei einer genaueren Analyse offenbaren sich signifikante Unterschiede in den Antworten der Teilnehmenden. Faktoren wie Geschlecht, Fitnesslevel, der Grad der Gewöhnung an das Fahrradfahren und die Fahrhäufigkeit beeinflussen das Antwortverhalten nachweislich. Das eine E-Bike, das alle als passend und angenehm empfinden, wird es demnach nicht geben. Stattdessen raten die Forschenden der Industrie die nächste Generation der E-Bikes so zu gestalten, dass sie sich von den Fahrradfahrenden anpassen lassen, zum Beispiel durch das Aus- und Abwählen unterschiedlicher Funktionen.
Am Beispiel der Sicherheitsfunktionen könnt ihr sehr gut erkennen, wie die abgefragten soziodemographischen Eigenschaften die Antworten prägen.
Frauen präferieren zum Beispiel ganz allgemein mehr Sicherheitsmerkmale an E-Bikes, während sich Männer Innovationen auf dem Gebiet der Sicherheit und dem Komfort in nahezu gleichem Maße wünschen. Die Toter-Winkel-Warnung rangiert auf Platz 1 der von Frauen gewünschten Sicherheitsmerkmalen. Bei den Männern sind es hingegen die Brems- und Blinklichter.
Weitere Ergebnisse in der Zusammenfassung:
- Befragten, die sich selbst einem niedrigeren Fitnesslevel (1-2) zuordnen, wünschen sich im Vergleich zu anderen verstärkt verschiedene Unterstützungsmodi.
- Die Toter-Winkel-Warnung interessiert besonders Nicht-Radfahrende und Pendler.
- Gruppen, die häufiger Fahrradfahren, d. h. Pendler, Fahrradfahrende mit hohem Fitnesslevel und Teilnehmende an Wettkämpfen wünschten sich verstärkt eine eingebaute Kamera.
- Teilnehmende an Wettkämpfen zeigen weniger Interesse an Brems- und Blinklichtern im Vergleich zu allen anderen Gruppen.
- Je länger Befragte pro Woche Fahrradfahren, desto höher fällt die Präferenz für die automatische Beleuchtung aus. Gleichzeitig sinkt das Interesse an einer Berganfahrhilfe.
- EuropäerInnen erachten die Toter-Winkel-Warnung als wesentlich wünschenswerter als NordamerikanerInnen – 31 Prozent gegenüber 18 Prozent.
- Demgegenüber wünschen sich NordamerikanerInnen stärker eine eingebaute Kamera im Vergleich EuropäerInnen – 31 Prozent gegenüber 15 Prozent.
Studie mit methodischen Defiziten
Trotz der aus unserer Sicht teilweise sehr aufschlussreichen Ergebnisse, stellt sich das reale Meinungsbild doch etwas anders dar. Das liegt an ein paar methodischen Eigenheiten der Untersuchung, die ihre Aussagekraft schmälern. So basieren die Ergebnisse nicht auf einer Zufallsstichprobe von E-Bike-Besitzern. Daher sind sie nicht unbedingt repräsentativ für die Gruppe der potenziellen E-Bike-KäuferInnen. Nur etwa 17 Prozent der Teilnehmenden an der Studie waren Frauen. Damit sind ihre Präferenzen von vornherein unterrepräsentiert. Genauso wie die von älteren Menschen. Schließlich waren 70 Prozent der Befragten unter 30 Jahre alt.
Regional ist ebenfalls eine starke Verzerrung feststellbar. Gerade einmal fünf Prozent der Befragten haben ihren Wohnsitz nicht in Europa oder Nordamerika. Vermutlich wäre auch der Anteil der Menschen an der Untersuchung größer gewesen, die gar nicht Fahrradfahren. Ob der übrige Teil der Befragten, also die Radfahrenden, E-Bikes, herkömmliche Fahrräder oder beides fahren, geht aus der Studie auch nicht hervor.
Bilder: Stilo, L., Segura-Velandia, D., Lugo H., Conway, P. P., West, A. A., 2021. Electric bicycles, next generation low carbon transport systems: A survey. Transportation Research Interdisciplinary Perspectives 10 (2021); Barski Design GmbH
Ich finde Sicherheit und Komfort auch gleichgewichtig. Wenn man Stundenlang mit dem Fahrrad unterwegs ist, ist Komfort wirklich ein großer Faktor. Die Sicherheit hat bei E-Bikes viel mit der Handlichkeit oder dem Gesicht zu tun.
Wirklich interessant, was diese Studie für Ergebnisse geliefert hat! Ich werde diesen Artikel gleich mal meinem Partner weiterleiten, der beruflich in diesem Gebiet zu tun hat. Unser ganzer Keller steht voll mit seinen Bikes.
Sicherheit und Komfort sind zwei wichtige Aspekte. Wenn ich einer der 638 Menschen gewesen wäre, hätte ich ähnlich geantwortet. Besonders automatische Beleuchtung wäre ein großer Vorteil.
Dass Teilnehmende an Wettkämpfen weniger Interesse an Brems- und Blinklichtern als andere Gruppen zeigen, wundert mich nicht. Ich möchte mir mein erstes E-Bike zulegen und direkt das richtige Modell aussuchen. Dafür werde ich morgen einen Experten für E-Bikes besuchen.
Ich möchte mir ein E-Bike kaufen. Schön zu erfahren, dass zukünftige Räder sogar eine Anfahrtshilfe am Berg bieten sollen. Dies finde ich auch sehr nützlich.
Ich überlege ein E Bike zu kaufen. Die „Toter-Winkel-Warnung“ finde ich auch sehr wichtig. Interessant, dass das bei Europäern eine größere Beachtung als bei Nordamerikanern findet.