Mit einem ausgesprochen innovativen Konzept plant Mavic ein neues Kapitel als Hersteller eines Motors für E-Bikes. Obwohl die Entwicklung des Aggregats namens X-Tend schon weit fortgeschritten ist, scheint derzeit völlig offen, ob es davon jemals eine Serienproduktion geben wird.
In der vergangenen Woche berichteten mehrere internationale Fahrradmagazine über einen neuen E-Bike-Motor von Mavic. Dabei fielen vor allem zwei Tatsachen auf. Erstens, der Tenor über alle Artikel hinweg war absolut positiv. Etliche Redakteure berichteten teilweise begeistert von Testfahrten und waren sich darüber einig, dass in dem Mittelmotor ein enormes Potenzial als Antrieb für sehr leichte, sehr sportlich ausgerichtete Fahrräder schlummere – vom E-Rennrad, über E-Gravelbikes bis hin zu minimalistischen urbanen E-Bikes zum Pendeln.
Infos, wir hätten gern Infos
Zweitens, der in vielen Fälle gegebene Hinweis, mehr Informationen seien auf der Webseite von Mavic zu finden, erwies sich als Sackgasse. Auf seiner Internetpräsenz schweigt sich der Hersteller zum X-Tend momentan völlig aus. Gleiches gilt für nahezu alle seiner Profile auf sozialen Plattformen. Lediglich auf seinem Youtube-Kanal ist eine Andeutung zu entdecken. Am Ende eines am 12. April 2023 veröffentlichten Clips mit dem Titel „Our DNA: Innovation“ stecken zehn Sekunden mit einer Schnittdarstellung, die das Innenleben des Motors zeigt.
Natürlich sind auch wir auf die Neuvorstellung aufmerksam geworden. Um Informationen aus erster Hand zu erhalten, haben wir uns direkt an Mavic gewandt und dort nach Bildmaterial, technischen Informationen und mehr gefragt. Als Antwort aus Frankreich kam die Aussage, dass man kein offizielles Presse-Kit oder ähnliches verteile. Immerhin ließ man uns nicht ganz im Rege stehen, sondern fügte noch einen Link zu einem längeren Video des britischen Online-Magazins „Road.cc“. Gut, das hatten wir zu dem Zeitpunkt schon selbst entdeckt, aber ok.
Daher geht das, was jetzt an Einzelheiten zum X-Tend von Mavic folgt, auf die Arbeit von Kolleginnen und Kollegen anderer Medien zurück. Es ist sozusagen unser Extrakt des bisher Bekannten.
1. Langer Anlauf
2. Zukunft ungeklärt
3. Bewusste Drosselung
4. Einfach mal loslassen
5. Hochtourig und robust
6. Erwartbare Lösung für den Akku
7. E-Rennräder – und was noch?
8. Was bleibt zu tun?
1. Langer Anlauf
Etliche von euch haben Mavic vermutlich als Spezialisten für alles rund um das Laufrad abgespeichert, sprich Naben, Felgen und so weiter. Umso überraschter dürftet ihr von der Nachricht zu einem Antrieb des Herstellers gewesen sein. Wir waren es jedenfalls. Das französische Magazin Vojo berichtet jedoch davon, dass erste Ideen für einen Motor schon 2016 aufkamen. Zwei Jahre später gab es erste Patentanmeldungen in dem Zusammenhang. Durch das wirtschaftliche Auf und Ab von Mavic mit dem Verkauf durch Amer Sports 2019, dem Insolvenzverfahren 2020 und der anschließenden Übernahme durch die Bourrelier-Gruppe geriet das gesamte Vorhaben anscheinend ins Stocken. Nun hat es einen Stand erreicht, mit dem der Hersteller bewusst an die Öffentlichkeit treten wollte.
2. Zukunft ungeklärt
Dafür lud er Anfang April ausgewählte Magazine zu Testfahrten nach Annecy in die französischen Alpen ein. Augenscheinlich ging es darum, sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie erfahrene Redakteure den erreichten Entwicklungsstand beurteilen. Gleichzeitig sollte natürlich auch gezielt Aufmerksamkeit auf das Projekt gelenkt werden. In dem Video von Road.cc spricht Maxime Brunand, Leiter des Produktmanagements bei Mavic, offen über die Suche nach finanziellen Partnern. Allein sähe sich das Unternehmen derzeit nicht in der Lage, die industrielle Serienproduktion zu stemmen. Daher sei mit einem Markteintritt frühestens 2025 oder 2026 zu rechnen.
3. Bewusste Drosselung
Mindestens ein Partner begleitet Mavic bei der Entwicklung des X-Tend seit längerem. Dabei handelt es sich um den Schweizer Fahrradhersteller BMC. In dessen Rennrädern steckten die Prototypen des Motors, mit denen die Medienvertreter die Tests absolvierten. Warum vor allem diejenigen große Freude dabei hatten, die sich hauptsächlich mit dem Straßenradsport beschäftigen, liegt an der Art des Motors. Der Mittelmotor ist alles andere als ein Kraftprotz. Sein nominales Drehmoment von 39 Newtonmetern im Dauerbetrieb bei einer Leistung von 250 Watt liegt um einiges unter dem, was Aggregate wie der HPR50 von TQ oder der Ride 60 von Fazua leisten. Selbst wenn in Leistungsspitzen die Werte kurzfristig 50 Newtonmeter bei 390 Watt steigen können sollen.
Genau in diesem Maß an Unterstützung sieht Mavic aber die Vorteile des X-Tend. Es ist zum Beispiel ein Grund dafür, weshalb der Motor lediglich 1,2 Kilogramm wiegt. Spaß sollen daran vor allem Menschen finden, die nicht mehr als ein sanftes Anschieben erwarten. Folglich scheinen derzeit auch nur drei Unterstützungsstufen für den Antrieb geplant: Eco, Sport und Boost. Die Unterstützung in den Fahrmodi beträgt standardmäßig 30 Prozent, 60 Prozent und 120 Prozent als Maximum. Per lässt sich das später wohl auch für jeden Fahrmodus individuell anpassen.
4. Einfach mal loslassen
Dieser Klientel ist es zudem besonders wichtig, von Motor nicht unnötig ausgebremst zu werden, wenn die Fahrgeschwindigkeit die Grenze von 25 km/h überschreitet oder aber der E-Antrieb ausgeschaltet ist. Deshalb entkoppelt der Motor komplett in diesen beiden Szenarien. Eine mechanische Kupplung sorgt dafür, dass es zu keinerlei Reibung kommt. Der einzige Widerstand rühre von dem Lager des Tretlagers her, betont Mavic.
Wie das geht? Nun, Mavic hat einen Motor entworfen, der keine eigene Achse benötigt. Im Grund es ein Zylinder mit einem Loch in der Mitte. Durch ihn hindurch führt die Achse einer ganz gewöhnlichen Kurbel mit dem Hollowtech-Standard von Shimano. Ein spezieller Arm, auf der Achse an der Antriebsseite montiert, ist mit dem Kettenblatt verbunden. Von der Form erinnert der ein wenig an einen Widerhaken. Inneren des Motors gibt es wiederum eine Verbindung mit dem Freilauf. Ist diese entkoppelt, drehen sich Achse und damit die Kurbeln wie einem lediglich zu groß geratenen Tretlager.
Darüber hinaus hat der Motor einen Q-Faktor von 146 Millimetern. Damit eignet sich jede gängige Shimano-Kurbel, die ihr von einem Fahrrad ohne E-Motor kennt, dann auch für den Einsatz am E-Bike. Der Umstand dürfte den Fahrradherstellern die Integration des Motors deutlich erleichtern. Erst recht, da sein Durchmesser mit 87 Millimetern äußerst klein ausfällt.
5. Hochtourig und robust
Genauso spannend geht es im Inneren des Motors zu. Dort verbaut Mavic ein Zykloidgetriebe. Dies zählt zu den Exzentergetrieben. Es ermöglicht großen Untersetzungen. Folglich kann der Motor bei hohen Drehzahlen betrieben werden, die sich dennoch auf eine Drehzahl reduzieren lassen, die gut zum Radfahren passen. Im Laufe seiner Testfahrt berichtet der Redakteur von Road.cc etwa von einer Passage, in der seine Trittfrequenz 60 beträgt, während der Motor zu dem Zeitpunkt 4.500-mal rotiert. Ein weiterer Vorteil des Zykloidgetriebes besteht in seiner Einfachheit. Die Anzahl seiner Bauteile ist überschaubar, wovon meist die Haltbarkeit profitiert, weil einfach weniger Teile verschleißen können. Es kommt ohne zusätzliche Stufen aus, die beispielsweise typisch für ein Planetengetriebe sind. Ebenso wenig finden sich Zahnräder, weshalb auch keine Scherkräfte auftreten können.
Zum X-Tend gehört noch ein integrierter Leistungsmesser. Dieser erfasst die Leistung, die per Muskelkraft auf das Pedal gebracht wird und packt je nach gewählter Unterstützungsstufe den entsprechenden Prozentsatz davon zusätzlich darauf.
6. Erwartbare Lösung für den Akku
Neben dem Motor ist auch der Akku augenscheinlich fast marktreif. Mavic hat sich für dessen feste Integration im Unterrohr entschieden. Auf die Weise kann des Gesamtgewichts des E-Bikes möglichst niedrig gehalten werden. Mit einer Kapazität von 360 Wattstunden bei einem Gewicht von 1,8 Kilogramm liegt er nahezu gleichauf mit dem von TQ. Der ergänzende Range Extender soll weitere 180 Wattstunden an Kapazität mitbringen und 1,2 Kilogramm wiegen.
Zur im Oberrohr angebrachten Bedieneinheit erfährt man in den veröffentlichten Videos relativ wenig. Über eine Plus- und Minustaste lassen sich wohl die Fahrmodi wechseln. Eine in sechs Abschnitte untergliederte Anzeige informiert über den Ladezustand des Akkus.
7. E-Rennräder – und was noch?
Wie erwähnt, denkt Mavic an E-Rennräder als späteren Haupteinsatz für den Mittelmotor. Produktmanager Maxime Brunand erwähnt daneben leichte Commuter-Bikes. Die seien leicht mit in die Wohnung zu nehmen, wenn das Fahrrad am Ende nur ungefähr zwölf Kilogramm wiege. Dass eine solche Vorhersage nicht aus der Luft gegriffen scheint, legen die Testfahrten mit den E-Rennrädern von BMC nahe. Die wogen allesamt weniger als 9,8 Kilogramm, wovon 3,2 Kilogramm auf den eigentlichen Antrieb entfielen.
Angesichts des geringeren Drehmoments rechnet das französische Magazin „Vojo“ kaum mit anderen Anwendungen. Schon beim E-Rennrad dürfet der X-Tend wohl nur den Geschmack von Menschen treffen, die gut trainiert sind und die elektrische Unterstützung nur begrenzt brauchen. Sobald eine hohe Zuladung oder steilerer Anstiege drohten, könne der Antrieb vielleicht schnell an seine Grenzen stoßen. Daher seien E-Gravelbikes mit dem Motor deutlich schwerer vorstellbar, während E-Mountainbikes eigentlich komplett ausgeschlossen seien. Den Gegenbeweis zu dieser These gibt es in Form des Thömus Lightrider E Ultimate und dessen Maxon Bikedrive Air mit 40 Newtonmetern allerdings auch schon.
8. Was bleibt zu tun?
Einig sind sich die verschiedenen Medien darüber, dass zum jetzigen Zeitpunkt der X-Tend noch nicht vollends ausgereift ist. Mavic selbst erwähnt zum Beispiel den Leistungsmesser als aktuelle Baustelle. Bei Ausstattungen mit zwei Kettenblättern funktioniere der schon sehr gut auf dem kleinen Kettenblatt, jedoch noch nicht optimal auf dem großen Kettenblatt. Es gäbe noch keine Bedieneinheit für den Lenker. Und auch die App sei noch nicht fertig.
Nach seiner Testfahrt gibt Vojo zu bedenken, dass das Entkoppeln des Motors noch etwas hakelig sei. Gemäß der aktuellen Konstruktion verlangt das Entsperren ein kurzes Rückwärtstreten, damit der Arretierungsarm die Kurbel freigibt. Das spüre man derzeit noch. Zudem würde der Motor für den Bruchteil einer Sekunde nachschieben, wenn man mit dem Pedalieren aufhöre. Durch die Verbindung zwischen Motor und Kurbel würden die Beine mitbewegt, was gerade zu Beginn irritierend sei.
Mehrmals wird auch das Motorgeräusch als noch zu laut erwähnt. Zur Einordnung sei hier erneut erwähnt, dass die Testfahrten mit einem Prototyp erfolgten.
Serienreif seien dagegen bereits das ausgesprochen sanfte Überschreiten der Schwelle von 25 km/h als auch der Wiedereintritt unterhalb dieser Schwelle. Gelobt wurde ebenfalls das natürliche Fahrgefühl bei ausgeschaltetem Motor.
Antriebssystem Mavic X-Tend im Überblick:
- Antriebsart: Mittelmotor
- Dauernennleistung: 250 Watt
- Leistungsspitze: 390 Watt
- Unterstützung maximal bis: 25 km/h
- Tretlager: Shimano Hollowtech
- Nominales Drehmoment: 39 Newtonmeter
- Maximales Drehmoment: 50 Newtonmeter
- Fahrmodi: Eco, Sport, Boost
- Akku: 360 Wattstunden
- Range Extender: 180 Wattstunden
- Gesamtgewicht: 3,2 Kilogramm
Bilder: Mavic Group; Road.cc
Mavic hatte die erste elektronisch Schaltung entwickelt, ging leider nie in Serie.
Ich hoffe das wiederholt sich nicht mit dem E-Antrieb, denn ich wäre wie damals einer der der Ersten Kunden.
Das Konzept leichter Mittelmotor überzeugt bei Renn/TourenRad für ambitionierte Renn(t)ner wie mich. Wenn ich wieder LongTripps durch Frankreich machen will und die Kondition für UL Gepäck schwindet, haben wollen.
… abwarten H.D
warum noch einen. Der TQ Antrieb funktioniert gut und ist bewährt, eine Kopie braucht’s eigentlich nicht.
Hallo Gerhard,
dein Argument ist absolut berechtigt. Gleichzeitig lässt sich am Beispiel von Bosch ganz gut beobachten, was passiert, wenn eine Zeit lang Konkurrenz fehlt und dann plötzlich doch um die Ecke kommt. Daher sehen wir das grundsätzlich erst einmal positiv, wenn ein so renommiertes Unternehmen wie Mavic den Pool der Motorenanbieter erweitern möchte.
Sportliche Grüße, Matthias