Zweifellos gehört Gravel zu DEN Bike-Trends der vergangenen zwei, drei Jahre. Im Sortiment beinahe jedes größeren Fahrradherstellers findet sich inzwischen ein entsprechendes Bike – auch mit elektrischer Unterstützung. Höchste Zeit also, einmal tiefer in das Thema einzutauchen.
Damit wir wissen, wovon hier überhaupt die Rede ist, haben wir mit jemanden gesprochen, der mittendrin in der Gravel-Szene Deutschlands steckt. Raphael Albrecht gehört zu den Jungs und Mädels, die in diesem Jahr die erste Rennserie für die diese Art des Radfahrens auf die Beine gestellt haben. Wie die funktionierte, wie viele E-Bikes daran teilgenommen haben und ob sich Gravel und E-Bike überhaupt miteinander vertragen, erklärt Raphael exklusiv im Interview mit Elektrofahrrad24.
Raphael, Orbit360 heißt die erste Gravel-Rennserie Deutschlands, die du und deine MitstreiterInnen ins Leben gerufen haben. Worum handelt es sich dabei genau?
Abenteuer-Etappen-Rennen beschreibt es vermutlich ganz treffend. Vom 4. Juli bis zum 6. September waren insgesamt 16 Strecken, unsere Orbits, über ganz Deutschland verstreut für jedermann freigegeben. Wer wollte, konnte die Orbits als Rennen fahren, seine Daten über Komoot hochladen und zahlte dafür einmalig 25 Euro. Genauso gab es aber die simple Spaß-Option, sprich einfach Strecke herunterladen und so sportlich oder entspannt wie gewünscht drauf los.
Wie ist die Idee dazu entstanden?
Ende Februar kam ich gerade von „Atlas Mountain Race“ aus Marokko zurück. Das Rennen sollte der Startschuss für meine Fahrrad-Saison sein. Stattdessen fiel wegen der Corona-Pandemie danach ein Rennen nach dem anderen aus. Also fing ich an, die Umgebung von Berlin zu erkunden und Routen zu scouten. Zu meiner eigenen Überraschung gab es dabei wahnsinnig tolle Dinge zu entdecken. Aus diesen Anfängen entstand später die Brandenburg-Route.
Dabei habt ihr es aber nicht belassen, sondern 15 weitere Routen erstellt. Hast du die alle selbst gescoutet?
Nein, das hätte ich zeitlich niemals geschafft. Ich habe bundesweit Leute kontaktiert, die ich mehr oder weniger gut kannte und sie gefragt, ob sie bei sich vor Ort dasselbe tun möchten. Als Vorgabe dienten ein paar allgemeingültige Kriterien. Am Ende ergibt sich dennoch ein Puzzle von 16 verschiedenen Menschen. Aufgrund der jeweiligen Charaktere der unterschiedlichen Gegenden führte das so zu einem echt abwechslungsreichen und sehr anspruchsvollen Rennen. Die gute Nachricht für alle da draußen lautet: Im nächsten Jahr wird es etwas leichter.
Welcher Herausforderung haben sich die Teilnehmenden genau gestellt?
Da war zwischen 210 und 320 Kilometern, 730 und 4.500 Höhenmetern, Schotter, Wurzeln, Singletrail, Waldautobahn, Sand und Panzerstraße alles dabei. Es gab Orbits, auf denen die Schnellsten in 13, 14 Stunden durchgekommen sind, wofür andere 34, 35 Stunden gebraucht haben.
Erschwerend kam hinzu, dass etliche Wege zugewuchert waren. Klar, gescoutet hatten wir die im März und April. Da sah das alles noch anders aus. Wer sich vorab die Profile auf Komoot angeschaut hat und weiß, welche Rennen Mit-Initiator Bengt Stiller und ich bereits gefahren sind, konnte schon eins und eins zusammenzählen und war sicher auf die Schmerzen vorbereitet.
Hätte ein E-Bike am Rennen teilnehmen können?
An sich nicht. In den Teilnahmebedingungen hieß es „human powered“. Davon ungeachtet hätte auch die Bedingung „unsupported“ für besondere Bedingungen gesorgt. Ein Akku dürfte beispielsweise zwischendurch nicht wieder aufgeladen werden. Bliebe noch die Lösung, mit entsprechend vielen Ersatzakkus zu starten. Aber dieses Mehrgewicht hätte vermutlich den Vorteil der elektrischen Unterstützung komplett eliminiert. Spannend hätte ich den Versuch aber allemal gefunden.
Wie viele Leute sind alle Etappen gefahren?
Kein einziger. Ganz am Anfang hatte ich mir das vorgenommen und lautstark verkündet: Ich fahre alles. Aber da wusste ich noch nicht, was auf mich zukommt. Der Sieger hat am Ende 14 Etappen beendet. Für die Siegerin standen 11 zu Buche. Pro Orbit musste man rund drei Tage rechnen. Einer geht für die Vorbereitung drauf, einen zum Orbit fahren und einer zur Erholung. Das ist schon sportlich kalkuliert. Teilweise war das Niveau nämlich erstaunlich hoch. Wer ganz vorn dabei sein wollte, musste bis zu 13 Stunden ohne Pause durchweg fahren. Insgesamt haben 268 Fahrerinnen und Fahrer 728 Orbits beendet. Im Durchschnitt also 3,3 Orbits.
Nach welcher Wertung habt die SiegerInnen gekürt?
Für jeden gefahrenen Orbit gab es 300 Punkte. Wer drei Orbits beendet hat, bekam 1.000 Extra-Punkte. Das hat anscheinend doch etliche motiviert. Auf den Orbits selbst erhielten die zehn Besten in jeder Kategorie zusätzlich Performance-Punkte. Folglich hatten wir mit diesem Rankingsystem einen guten Mix aus Fleiß und Leistung.
Ausgeschrieben was das Orbit360 als Gravel-Rennen. Was verstehst du denn unter Gravel?
Jemand, der vom Straßenradsport kommt, beantwortet die Frage sicher anders als jemand, der vom Mountainbike herkommt. Von Mountainbike-Fans hieß es ab und zu: Hättet ihr das nicht ein bisschen härter, ein bisschen technischer machen können? Der Rennradfahrer hat zu dem Zeitpunkt vielleicht schon einen richtig dicken Hals.
Du definierst den Begriff also eher über das Terrain, auf dem gefahren wird?
Meine Standardantwort lautete lange Zeit: Gravel ist für mich alles abseits der Straße. Aber selbst um die kommen wir zumindest in Deutschland nicht herum. Man muss ja Wege miteinander verbinden. Oftmals wird der Begriff mit legendären Radrennen in den USA wie dem Dirty Kanza oder dem Barry-Roubaix verbunden. Dort sind dann meist 35, 38 Millimeter breite Reifen angesagt. Das passt zu den ewig langen Schotterpisten Nordamerikas. Auf vielen Gravel-Strecken durch europäische Wälder ist das schnell zu schmal. Bei uns wird der Begriff sicher deutlich weiter gefasst.
Was gilt für dich als Gravel-Bike?
Da bleibe ich ganz klassisch bei der Mischung aus Rennrad und Mountainbike, sprich Rennradlenker mit dicken Reifen.
Oftmals ist die Rede von einer bestimmten Lebenseinstellung, die zum Gravel gehöre. Ist da etwas dran?
Viele sagen, Gravel bedeutet für sie Freiheit. Es drückt auch ein wenig die Flucht aus den Städten aus. Überall, wo man Gravel fahren kann, gibt es keine Autos oder andere Dinge, auf die man aufpassen muss. Du kannst wahnsinnig lang schnell fahren, ohne dir über solche Dinge Gedanken machen zu müssen. Auch die Orte gehören für mich dazu. Zu den wirklich interessanten Orten führt kein Asphalt. Auch wenn ich dabei eher an Südamerika oder Afrika denke.
Sind Gravel-Bikerinnen und Biker spezielle Typen?
Sicherlich ein bisschen. Auf alle Fälle ist die Gravel-Community mega offen und nachhaltig. Die hinterlassen beim Fahren und Campen kein Blatt Papier. Die meisten Leute haben einfach nur Lust rauszugehen und Rad zu fahren. Die schären sich nicht um einen Wattmesser oder ihre Herzfrequenz. Und zum Übernachten im Freien gehört selbstverständlich ein Bierchen dazu. Bei den Anhängern des Straßenradsports zählen eher solche Dinge wie Strava und KOM-Zone.
Widersprechen sich diese Einstellung zum Gravel und das E-Biken?
Nö. Es gibt auch etliche Leute, die E-Bikes hassen und sich diebisch freuen, wenn sie mal eins überholen. Damit kann ich gar nichts anfangen. E-Bikes sind top, zum Beispiel für Leute, die dadurch wieder zum Radfahren kommen. Allerdings bin ich auch schon im Gelände auf E-Biker getroffen, deren Bewusstsein für das Radfahren offensichtlich ein ganz anderes als meines ist. Die haben ihr Display im Blick gehabt, aber nicht den Verkehr um sich herum. Und beim schnellen Reagieren schienen sie von der Geschwindigkeit ihres Bikes und dessen Gewicht überfordert. Wie bei so vielen Sachen gibt es hier kein einfaches Schwarz und Weiß.
Ist die Geschichte tatsächlich eine neue? Denn viele Zutaten des Gravel gibt es seit langem im Radsport, wie das Fahren abseits der Strecke, das Bewältigen großer Distanzen oder das Selbstverpflegen.
Da ist auf alle Fälle etwas dran. Die Fahrradhersteller greifen den Begriff nur allzu gern auf. Und ich nehme mich dabei keineswegs aus. Schließlich haben wir Orbit360 auch Gravel-Serie genannt. Kann sein, dass es das schon immer gab. Ich bin der Meinung, die Leute sollen das machen, was ihnen Spaß macht. Wenn das gerade Gravel-Fahren ist, dann haut rein.
Wer hat den Begriff geprägt, die Bike-Community oder die Marketingabteilungen der Hersteller?
Ohne das bis in den letzten Ursprung erforscht zu haben, glaube ich, dass es auf die Hersteller zurückgeht. Liegt ja auch nahe. Sie bieten Hardtail-Mountainbikes und Rennräder an. Wie lässt sich also ein neues Produkt erschaffen, eine neue Lücke füllen? Wer auch immer damit begonnen hat, scheint immerhin den Nerv der Leute getroffen zu haben.
Habt ihr selbst mal ein Gravel-E-Bike getestet?
Berührung damit hatte ich bisher nur ein einziges Mal. Vor Beginn des Atlas Mountain Race verbrachte ich ein paar Tage Urlaub mit meiner Freundin in Marokko, die sonst keine längeren Distanzen mit dem Rad fährt. Ich wollte ihr ein paar Streckenabschnitte zeigen. Mit einem E-Bike war das plötzlich möglich. Ohne wäre das einfach zu hart für sie gewesen. Aber so sind wir 80, 90 Kilometer gefahren, haben uns in ein Café gesetzt, drei Stunden gewartet, bis der Akku wieder aufgeladen war und sind zurück. Das war richtig cool.
Eignet sich ein E-Bike generell zum Gravel?
Auf alle Fälle. Von der Unterstützung bis zu 25 km/h profitierst du in 99 Prozent der Fälle. Klar, bergab geht’s mal deutlich schneller dahin. Aber das ist die Ausnahme.
Klingt so, als wäre die Zeit durchaus reif für eine E-Gravel-Serie.
Vielleicht. Im Moment beschäftigen mich jedoch andere Projekte. Gut möglich, dass andere die Idee aufgreifen. Ich werde mich da vorerst zurückhalten. Für mich steht der Gedanke von unsupported und human-powered klar im Vordergrund.
Was steht denn stattdessen bei dir auf dem Plan?
Gleich im Januar geht’s weiter mit einer neuen Orbit360 Challenge, die wir in wenigen Tagen auf der Webseite und unseren Social-Media-Kanälen veröffentlichen werden. Diese Challenge hat eher einen sozialen Charakter. Deshalb erheben wir auch kein Startgeld. Die Teilnehmer nehmen gegen eine Spende ihrer Wahl an der Challenge teil. Mit den Erlösen werden wir zwei gemeinnützige Projekte unterstützen. Zum einen Bikeygees aus Berlin, die geflüchteten Frauen das Radfahren beibringen. Der andere Teil geht an Ghana Bamboo Bike Projects. Dort werden Bambusräder für Kinder gebaut, die aufgrund der schlecht ausgebauten Infrastruktur in Ghana ihren bis zu 20 Kilometer langen Schulweg sonst zu Fuß bewältigen müssten.
Dann wünschen wir dir für beides viel Erfolg und danken dir für das Gespräch.
Bilder: Bengt Stiller/Orbit360; Raphael Albrecht
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