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Wildwechsel voraus. Das E-Bike Platzhirsch von Urwahn im Test + Video

E-Bike Urwahn Platzhirsch

Manchmal genügt schon das Aufsteigen auf ein Fahrrad, um zu merken: Das könnte gleich jede Menge Spaß geben. Meine erste Begegnung mit dem Platzhirsch von Urwahn ist ein solcher Moment. Ich sitze noch nicht einmal richtig und habe bereits ein erstes Aha-Erlebnis. Der Auslöser dafür ist mein Schuh. Er fährt auf ein Flachpedal, dessen Trittfläche teilweise mit einer Art grauem Sandpapier versehen ist. Dank des Widerstandes bleibt mein Fuß genau an der Stelle, wo ich ihn haben möchte. Ein Stopp wie gewünscht. Mal sehen, ob es genauso erfreulich weitergeht.

Tatsächlich erweisen sich beim Fahren die Pedale als enorm griffig. Als jemand, der sich gewöhnlich auf Klickpedalen verlässt, ist eine sichere und exakte Position auf dem Pedal für mein Fahrgefühl besonders wichtig. Bei den Trittbrettern am Platzhirsch bleibt mein Fuß selbst ohne Verankerung mit dem Ballen über der Pedalachse. Der Unterschied zu meinem Alltag fällt diesbezüglich ziemlich gering aus, was mir den Zugang zu diesem Bike definitiv erleichtert.

Angenehmes Ankommen

Überhaupt hat Urwahn viel Wert auf Qualität gelegt, was die Kontaktpunkte am Bike betrifft. Griffe und Sattel am Testfahrrad stammen zum Beispiel von Ergon. Kleine Verbreiterungen an den Griffen sorgen für zusätzliche Dämpfung. Allerdings sind sie weder groß noch stabil genug, um als wirkliche Auflagefläche für die Handballen dienen zu können. Wer sich mithilfe des Konfigurators von Urwahn online seinen eigenen Platzhirsch zusammenstellt, kann alternativ auch Komponenten von Brooks wählen. Preislich tut sich da nichts.

Der erste positive Eindruck verfestigt sich dank einer sehr angenehmen Position auf dem Rad. Durch den weit über 70 Zentimeter breiten Lenker fühle ich mich an das Fahren auf einem Mountainbike erinnert. Etwas überraschend, da wir hier über ein E-Bike reden, das auf den Ritt durch den urbanen Dschungel ausgelegt ist. Aber gute Kontrolle ist auch dort wichtig. Und die nötige Sicherheit vermittelt der Lenker in jedem Falle. Beim Antritt ordentlich daran gezogen und schwups, überträgt sich die Kraft wunderbar direkt auf die Pedale. Zudem ergibt sich ein wirksamer Hebel, dank dessen ihr den Platzhirsch in der Schräglage auch gekonnt um engere Kurven zirkelt.

Sobald der Verkehr dichter wird und ihr euch zwischen den Autos hindurch an einer Ampel nach vorn schlängeln wollt, weil der Fahrradweg leider vor 100 Metern plötzlich endete, zeigt sich ein Nachteil dieser Lösung. Dann gilt es nämlich, nicht unabsichtlich den einen oder anderen Rückspiegel eines Autos zu rasieren. Großstadt, Rushhour und lückenhafte Verkehrsplanung können euch in der Summe unerwartet schnell vor Augen führen, wie hinderlich 70 Zentimeter sein können.

Antrieb der leisen Art

Davon abgesehen bereitet das Mitfließen im Verkehr auf dem Platzhirsch viel Vergnügen. Der in der Hinterradnabe untergebrachte ebikemotion X35+ von Mahle lässt das Fahren erwartungsgemäß leicht erscheinen. Falls er Geräusche entwickelt, dringt davon wenig bis gar nichts zu euch durch. Das liegt zum einen sicher am Abstand, den ihr automatisch zu ihm habt. Zusammen mit den Rollgeräuschen der Reifen, dem Fahrtwind um eure Ohren und dem ab und an vernehmbaren Windspiel in den Laufrädern gibt es einfach genug an peripherer Geräuschkulisse, in der der Sound des Antriebs meist komplett untergeht.

Etwa schwieriger ist es dagegen, die Bedieneinheit iWoc Trio am Lenker abzulesen. Zwei schmale LED informieren euch über einen simplen Grün-Orange-Rot-Farbcode permanent über den Ladezustand des Akkus. In welcher der drei Unterstützungsstufen ihr gerade unterwegs seid, wird euch nur mit einem kurzen Blinken beim Wechsel der Stufe angezeigt. Unglücklicherweise haben die Fahrmodi dieselben Farben wie die Akkulevel. Wer die Fahrt nicht parallel mit der App verfolgt, muss hier ganz schön wachsam sein, um stets den Überblick zu bewahren. Falls die Lichtverhältnisse das überhaupt erlauben. Scheint Klärchen nämlich direkt auf die Einheit, ist es nahezu unmöglich, die Anzeige sicher zu erkennen. Selbst wenn die Sonne sich hinter ein paar Schleierwolken verzieht, ist das problematisch.

Bedienung mit ein paar Eigenheiten

Da wir gerade beim Lästern sind. Im Grunde hat Mahle sich das gut überlegt. Wer von einem in den anderen Fahrmodus wechselt, erhält von der Bedieneinheit über ein Vibrieren ein entsprechendes Feedback. Im Stand funktioniert dies tadellos. Während der Fahrt wird das Vibrieren jedoch von den sonstigen Erschütterungen überlagert. Auch unter Fingerhandschuhen spürt ihr kaum etwas. Insgesamt reißt uns das nicht vom Hocker.

Hinzukommt eine, nennen wir es, persönliche Befindlichkeit. Über die Bedieneinheit lässt sich auch das Dauerlicht am Bike ein- und ausschalten. Gerade im Sommer möchten vielleicht einige von euch etwas Akku sparen und tagsüber auf das Licht verzichten. Die obere Pfeiltaste länger drücken, erledigt. Diese Einstellung „vergisst“ der Antrieb allerdings, sobald man ihn deaktiviert. Vermutlich aus Sicherheitsgründen, damit ihr in der „Grundeinstellung“ erst einmal optimal gesehen werdet. Kann ich nachvollziehen. Würde mich auf Dauer dennoch nerven.

Schwarz, schmal und schön haftend

Ein sattes Schnalzen zieht mich aus diesem Genörgel wieder heraus. Anscheinend genügen bereits 15 Grad Celsuis und ein wenig Sonnenschein, um den GP Urban von Continental auf Betriebstemperatur zu bringen. Der Reifen vermittelt im Trockenen einen hervorragenden Grip. Da wir April haben, konnte er sich zuvor auch zur Genüge auf nassem Untergrund beweisen. Und für einen Slick gibt er ebenfalls unter diesen Bedingungen eine gute Figur ab. Ein Blick auf die Flanke verrät mir, dass Urwahn die Pneus mit 35 Millimetern aufziehen lässt. Von oben auf den Reifen draufgeschaut, hätte ich deutlich weniger getippt. Die Felge besitzt jedoch eher eine schmale Maulweite, weshalb der Reifen knackig sitzt und daraus eine schmale Lauffläche resultiert.

Entsprechend schmalspurig rolle ich an den heutigen Härtetest an. Ich möchte gern besser abschätzen, wie viel Reichweite der montierte Akku im Alltag abliefern wird. Leider hat sich die ebikemotion-App nicht mit dem Testbike verbinden wollen. Sie fällt also als Datenquelle aus. Macht nix, dann ist eben Plan B angesagt. Dafür gibt es keinen Leckerbissen. Eher so ein Toffee, das umso zäher im Mund wird, je energischer man darauf herumbeißt. Mein Toffee ist fast drei Kilometer lang, aus Asphalt und hat eine durchschnittliche Steigung von rund 4,4 Prozent. Den fahre ich zweimal hinauf, zuerst in der niedrigsten Unterstützungsstufe und danach im maximalen Modus.

Mit maximaler Power das Toffee hinauf

Versuch eins artet in Sport aus. Kein Wunder. Ich fahre den Platzhirsch als Singlespeed. Die Übersetzung lautet: 60 Zähne auf dem Kettenblatt und 20 Zähne am Ritzel. Also ein Verhältnis von glatt drei. Das will erst einmal in Gang gesetzt werden. Wie viel von den maximal 40 Newtonmetern an Drehmoment mit der Mahle-Motor in der niedrigsten Unterstützung liefert, weiß ich gar nicht. Spätestens oben auf dem Toffee angekommen spielt das auch irgendwie keine Rolle mehr.

Glücklicherweise geht es vor Versuch Nummer zwei den Anstieg zunächst hinunter. Dabei kann ich mich völlig auf meine Erholung konzentrieren. Um das Fahren kümmert sich der Platzhirsch. Zumindest fühlt es sich ein wenig so an. Ihr erinnert euch an die eingangs beschriebene angenehme Sitzposition und das tolle Handling? Jetzt kommen beide zum Tragen.

Zurück am Ausgangspunkt folgt eine Kehrtwende und hinauf geht’s wieder im Strampelmodus. Nun merklich entspannter, da der Motor mich diesmal mit voller Power anschieben darf. Auf diese Weise komme ich wesentlich relaxter oben an. Dafür ist der Akku ganz schön am Pumpen, beziehungsweise am Rot Blinken. Ihn hat dieser Durchgang wohl deutlich mehr Puste gekostet als mich. Wenn ich mich richtig erinnere, grüßten mich zu Beginn des „Experiments“ noch zwei grüne LED. Ohne App ist das nicht mehr genau nachzuvollziehen. Aber derartige Belastungen gehen am Energiespeicher wohl nicht spurlos vorbei.

Riemen oder Kette?

Wieder in der Ebene fällt mir eine Sache auf, die ich ansatzweise auch bergauf bereits wahrgenommen habe. Die beachtliche Übersetzung bringt zwangsläufig eine recht niedrige Trittfrequenz mit sich, solange ihr unter der 25 km/h-Marke bleiben wollt. Für mich ist die Übersetzung zu dick gewählt. Das spüre ich vor allem beim Anfahren. Denn die Motorunterstützung setzt erst nach etwa einer halben Pedalumdrehung ein. Folglich muss ich einiges investieren, um initial vom Fleck zu kommen. Das potenziert sich in dem Moment, in dem ich an einem Berg anfahre oder der Wind mir lustig mit Stärke sechs ins Gesicht bläst.

Ihr braucht davor allerdings keine Angst haben. Denn Urwahn hat vorgesorgt. Zum einen bietet der Hersteller euch die Option, während des Bestellprozesses zwischen verschiedenen Übersetzungen zu wählen. Wessen Heimat also das entsprechende Profil mitbringt, kann so ein oder zwei Gänge runterschalten. Oder hoch, je nach Fitness und Vorlieben. Oder ihr wählt statt der Singlespeed-Version das Modell mit einer 11-Gang-Kettenschaltung. Dadurch verliert das Bike vielleicht ein wenig von seinem puristischen Design. Im Gegenzug erhaltet ihr jedoch ein sportlicheres Fahrerlebnis und zahlt nicht einmal drauf.

Aus unserer Sicht lohnt sich die Mühe, dieser Entscheidung genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Beim Fahren bricht das Temperament des Platzhirsch nämlich immer wieder hervor. Fast permanent drängt das E-Bike mit seinen weniger als 15 Kilogramm an Gesamtgewicht nach vorn. So ähnlich muss es sich auf einem Rennpferd fühlen, das am liebsten im Galopp geritten werden möchte. Gebt ihr diesem Drang nach, prescht ihr schnell über die 25 km/h hinaus und verliert die Motorunterstützung. Im Flachen passiert das fix, vor allem, wenn der Untergrund mitspielt. Kräftiger Rückenwind hat natürlich denselben Effekt. Daher will die Übersetzung gut gewählt sein.

Gutmütiger Charakter

Apropos wollen. Ich will es jetzt noch einmal wissen und halte mit dem Platzhirsch auf eines der fiesesten Kopfsteinpflaster der Stadt zu. Mal sehen, ob der Protz neben seinem imposanten Aussehen auch die nötige Standfestigkeit mitbringt. Das gilt vor allem dem grazilen Hinterbau, der
die unverwechselbare Optik des Bikes maßgeblich bestimmt. Urwahn hat sich ja ganz bewusst für Stahl als Rahmenmaterial entschieden. Erstens erlaubt das ihnen, ein komplett in Deutschland entwickeltes, gefertigtes und montiertes Fahrrad herzustellen, das den vielleicht geringsten ökologischen Abdruck unter allen derzeit am Markt verfügbaren E-Bikes hinterlässt. Und zweitens, soll das tropfenförmige nicht einmal einen Millimeter starke Stahlrohr den Komfort bieten, den traditionell viele Rahmenbauer diesem Material zusprechen.

Werde ich gleich sehen. Oder besser fühlen. Genau jetzt. Mit Starrgabel, knapp sechs Bar auf den Reifen und gemütlichen 22 km/h geht es hinauf aufs Folterbrett. Und ja, das lässt sich überstehen. Die Köpfe schütteln den Hirsch gehörig durch. Schon nach wenigen Metern merke ich jedoch, dass ich mich auf das konzentrieren kann, was in solchen Passagen generell ratsam ist. Hände nicht zu fest umgreifen. In Schultern und Armen locker bleiben. Natürlich spüre ich das Holpern auch hinten. Aber irgendwie gedämpft, als ob der Hinterbau die Spitzen der Schläge schluckt. Das ist bei weitem keine Fahrt mit einem Fully, trotzdem jederzeit beherrschbar. Es genügt, sich selbst auf das Abfangen der Schläge vom Vorderrad zu konzentrieren. Alles weitere erledigt der Rahmen.

Am Ende stelle ich den Platzhirsch zufrieden zurück in sein Gehege. In Ausnahmefällen geht die Haltung von Wildtieren in der Stadt für mich ab heute in Ordnung. Zumal diese Gattung etwas Besonderes ist. Fahrrad. Designobjekt. Umweltstatement. Wie viel euch diese Aspekte und vielleicht noch andere Seiten dieses E-Bikes wert sind, könnt nur ihr für euch selbst herausfinden. Urwahn ruft als Startpreis 4.500 Euro auf.

E-Bike Platzhirsch von Urwahn als Beispiel für Minimal Assist Bikes

E-Bike Platzhirsch von Urwahn

 

Bilder: Elektrofahrrad24

2 Gedanken zu „Wildwechsel voraus. Das E-Bike Platzhirsch von Urwahn im Test + Video“

    1. Hallo Dieter,

      dafür kannst du dich gern direkt an Urwahn wenden. Neben dem Waldwiesel.E kommt vielleicht ja auch der Platzhirsch für dich in Frage. Wenn du nach beiden im Internet suchst, wirst du sicher schnell fündig. Wir sind lediglich ein Blog und stehen in keinerlei Verbindung zum Hersteller.

      Sportliche Grüße
      Matthias

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