Wenn Fahrradhersteller neue Modelle auf den Markt bringen wollen, lassen sie oftmals Prototypen vorab von ausgewählten Personen testen. Dies können eigene Mitarbeitende, Radsportlerinnen und Radsportler, Medienschaffende oder sorgfältig nach bestimmten soziographischen Merkmalen zusammengestellte Gruppen aus der Bevölkerung sein. Für sein neuestes E-Lastenfahrrad hat Specialized größer gedacht. Als Testgruppe diente der gesamte US-amerikanische und der kanadische Fahrradmarkt. Mit den dort gesammelten Erkenntnisse hat der Hersteller das Specialized Turbo Porto zu dem gemacht, was nun als erstes Cargobike des Branchenriesen überhaupt nach Europa kommt.
Um es gleich vorwegzunehmen: Das ist nicht von Specialized bestätigt und allein unsere subjektive Lesart der Einführung des Turbo Porto. Dennoch gibt es ein paar Indizien, die dafürsprechen. Alles begann mit der überraschenden Wiederkehr der Marke Globe in Nordamerika 2022. Mit dem Globe Haul ST holte Specialized nicht nur die Marke aus der Versenkung hervor, sondern präsentierte gleichzeitig sein allererstes Longtail-Lastenfahrrad. Ihm folgte im Jahr darauf das Globe Haul LT. Dabei handelte es sich um eine Variante mit einem verlängerten hinteren Gepäckträger, der das Zuladen noch größerer Lasten erlaubt.
Nennt man das nicht Déjà-vu?
Zwischen dem Globe Haul ST und dem kürzlich präsentierten Specialized Turbo Porto lassen sich einige Parallelen erkennen. Beide sind ausgewachsene Longtails. Ihr Radstand und die Länge des hinteren Gepäckträgers unterscheiden sich lediglich um wenige Zentimeter. Auf ihrem Frontgepäckträger können Lasten von maximal 20 Kilogramm transportiert werden. Bei einem Gewicht von jeweils rund 40 Kilogramm beträgt ihr maximal zulässiges Gesamtgewicht 200 Kilogramm. Einiges Zubehör wie zum Beispiel die Fußrasten und die Fahrradkörbe Coolcave passt an beide Modelle.
Gleichzeitig unterscheiden sich die zwei Lastenräder in wesentlichen Punkten. Hinter manchen von ihnen steckt vermutlich das Ergebnis eines Lernprozesses. Andere sind wohl eine Reaktion auf Vorlieben der Fahrradfahrenden auf dem europäischen Kontinent. Und bei einer dritten Fraktion handelt es sich schlichtweg um Änderungen, die auf bestimmte europäische Regularien bezüglich der Zulassung eines E-Bikes zurückgehen.
Bewusster Motorenwechsel
Zu den Letztgenannten zählt auf alle Fälle die Wahl eines anderen E-Antriebs. Globe Haul ST sowie Globe Haul LT werden von einem Hinterradnabenmotor angetrieben, der im Dauerbetrieb 700 Watt leistet. Erlaubt sind Europa jedoch nur 250 Watt. Zudem reicht seine Unterstützung hinauf bis auf eine Geschwindigkeit von 45 km/h, was eine Einstufung als S-Pedelec zur Folge hätte. In Deutschland wäre damit das Fahren auf Radwegen passé. Vor allem für diejenigen, die im Alltag mit dem Fahrrad ihre Kinder in einem städtisch geprägten Umfeld von A nach B bringen wollen, vermutlich ein Grund, um eher Abstand von dem Modell zu nehmen. Durch seine Kooperation mit Brose hat Specialized jedoch einen kompetenten Partner an seiner Seite, der sich bestens mit Systemen für E-Lastenfahrräder auskennt. Daher erscheint die Entscheidung für ein gewöhnliches Pedelec mit Mittelmotor absolut nachvollziehbar.
Mit seiner Leistung von 250 Watt und dem Drehmoment von 90 Newtonmetern bietet der Specialized 2.2 Cargo ausreichend Kraft, damit ihr selbst mit vollgepacktem Fahrrad noch Anstiege bewältigt. Der Hersteller kombiniert das System mit einem 710 Wattstunden fassenden Akku, der im Unterrohr verbaut ist. Einen Steckplatz für einen zweiten Akku konnten wir auf den vorliegenden Bildern nicht erkennen. Ebenso wenig fällt bei den technischen Daten ein Wort von einem Range Extender. Daher heißt es, mit der Kapazität des einen Akkus sparsam umzugehen.
Bedeutet größer auch besser?
Zu den auffälligsten Unterschieden zu den bereits unter der Marke Globe vertriebenen Cargobikes zählt aus unserer Sicht das alternative Laufradkonzept. Statt einheitlich 20 Zoll großen Laufrädern vorn und hinten begegnet euch hier ein 24 Zoll großes Vorderrad. Gut möglich, dass die kleinere Variante hinsichtlich der Laufruhe nicht ganz überzeugen konnte. In der Folge wandert der Schwerpunkt vom vorderen Bereich des Fahrrades zwangsläufig weiter nach oben, was man gewöhnlich vermeiden möchte. Gleichzeitig gerät der Durchstieg des Turbo Porto um drei Zentimeter höher als beim Haul LT. Mit 54 Zentimeter ist er aber immer noch auf einem Niveau, über das die meisten Menschen bequem beim Auf- und Absteigen herüberkommen dürften. Lässt sich das Turbo Porto mit Mullet-Konzept mit den unterschiedlich großen Laufrädern stabiler steuern, war dies dennoch eine gute Entscheidung.
Auf breite Zustimmung dürfte die Wahl eines Vorbaus treffen, den ihr sowohl in der Höhe als auch im Anstellwinkel verändern könnt. Da Specialized das Turbo Porto nur in einer Rahmengröße fertigt, gewinnt das Detail zusätzlich an Bedeutung. Schließlich soll sich das Modell für Menschen mit einer Körperlänge zwischen 155 Zentimeter und 195 Zentimeter eignen. Dafür braucht es entsprechend viele Einstelloptionen, gerade für die Kontaktpunkte am Fahrrad. Sowohl die Höhe vom Sattel als auch des Lenkers lassen sich über Schnellspanner anpassen. Auf diese Weise können auch unterschiedliche Personen recht komfortabel abwechselnd das Fahrrad nutzen.
Ihr habt die Qual der Wahl
Abwechselnd und mit unterschiedlichstem Zubehör ausgestattet. Zwar kommt das Modell ab Werk erst einmal „nur“ mit einem vorderen und einem hinteren Gepäckträger. Allerdings umfasst die Liste dessen, was ihr euch zusätzlich zulegen könnt, zahlreiche Punkte:
- höhenverstellbare Trittbretter – 200 Euro
- Fußrasten aus Metall – 40 Euro
- per Klettverschluss flexibel positionierbares Sitzkissen – 50 Euro
- Sicherheitsreling – 220 Euro
- 25 Kilogramm beziehungsweise 44 Liter fassende seitliche Gepäcktasche für den hinteren Gepäckträger – 130 Euro
- Gepäckplattform für den hinteren Gepäckträger in den Maßen 73 cm x 46 cm inklusive dreier Spanngurte – 190 Euro
- per Klickfix montierbarer Gepäckkorb Coolcave mit 19 Liter Fassungsvermögen – 80 Euro
Egal, ob euer Fokus eher auf dem Befördern von Kindern oder von größeren Lasten und viel Gepäck liegt – es ergeben sich beinahe unzählige Kombinationen. Zumal der hintere Gepäckträger mit dem MIK HD-System kompatibel ist und so auch den Weg für das Nutzen diverser Kindersitze eröffnet. Auf den Gepäckträger passen hintereinander zwei Kindersitze. Hinzufügen könntet ihr eine der riesigen Gepäcktaschen und zwei der Körbe. Oder zwei Seitentaschen. Oder vier Körbe. Und statt zwei Kindersitzen auch einen Kindersitz und einen Sitzplatz für ein größeres Kind. Und vergesst den vorderen Gepäckträger nicht. Wie gesagt, wirklich viele Optionen.
Hat das Specialized Turbo Porto ein Gewichtsproblem?
Gleichzeitig offenbart die Vielfalt zwei Nachteile. Erstens hat das Zubehör mitunter stolze Preise. Zum eigentlichen Kaufpreis kann somit noch eine stattlich Summe hinzukommen. Zweitens dürft ihr den hinteren Gepäckträger nur mit maximal 60 Kilogramm beladen, den vorderen nur mit 20 Kilogramm. Zusammen mit dem Eigengewicht des Lastenfahrrades von rund 40 Kilogramm ergibt das 120 Kilogramm. Da das Turbo Porto für maximal 200 Kilogramm als Gesamtgewicht ausgelegt ist, dürftet ihr in dieser Rechnung nicht mehr als 80 Kilogramm auf die Waage bringen – im fahrbereiten Zustand. Eine höhere Traglast gerade beim hinteren Gepäckträger verbunden mit einem höheren zulässigen Gesamtgewicht hätten euch mehr Möglichkeiten gegeben. Zum Vergleich: Den hinteren Gepäckträger des Tern Orox, ebenfalls ein Longtail-Lastenrad, dürft ihr mit 100 Kilogramm belasten.
Sicherheit als Alleinstellungsmerkmal
Vom Tern Orox als auch den meisten anderen aktuellen Lastenfahrrädern hebt sich das Turbo Porto wiederum durch ein ganz besonderes Sicherheitsfeature ab. Seine Serienausstattung umfasst das Radarsystem Garmin Varia. Installiert am Ende des hinteren Gepäckträgers, warnt es euch vor Fahrzeugen, die sich von hinten besonders schnell oder in sehr engem Abstand zu euch nähern. Garmin selbst bot die Lösung lange mit einem kleinen Extra-Display an. Auf dem wanderte eine LED innerhalb einer senkrechten Leiste von unten nach oben, was die Annäherung zu euch symbolisieren sollte. Specialized hat die Anzeige direkt in das eigentliche Display integriert. Damit muss ein Teil weniger am Lenker Platz finden. Wie genau die Grafik aussieht, können wir nicht sagen, da wir das Fahrrad noch nicht fahren konnten. Gut möglich, dass sich die Ansicht an die Umsetzung anlehnt, die Garmin in den eigenen Fahrradcomputern verwendet.
Mit dem Radarsystem steigt natürlich auch der Preis für das Specialized Turbo Porto. Dazu trägt ebenfalls die stufenlose Automatikschaltung von Enviolo bei. Beide stehen dem Fahrrad sehr gut zu Gesicht. Nur umsonst gibt es sie eben nicht. So reden wir am Ende über 6.500 Euro. Diese reihen sich nahtlos in einige der jüngsten Neuvorstellungen wie das Gocycle Family Cargo, das Riese & Müller Carrie oder das schon erwähnte Tern Orox ein. Gut 2.000 Euro weniger kostet dagegen mit dem Cube Longtail Hybrid ein E-Lastenfahrrad vergleichbarer Bauart.
Specialized Turbo Porto im Überblick
- Rahmen: E5 Aluminium
- Rahmengröße: onesize
- Gabel: E5 Aluminium
- Motor: Specialized 2.2 Cargo
- Akku: Specialized U2-710
- Display: MasterMind TCD
- Antrieb: Enviolo Heavy Duty
- Bremsen: Tektro Dorardo, Cargo Specific
- Gewicht: 39,6 kg
- Maximale Zuladung vorderer Gepäckträger: 20 kg
- Maximale Zuladung hinterer Gepäckträger: 60 kg
- Maximal zulässiges Gesamtgewicht: 200 kg
- Farben: Smoke / Black
- Preis: 6.500 Euro
Bilder: Specialized Bicycle Components, Inc.