Donnerstag, den 1. Juli dieses Jahres, könnt ihr euch im Kalender ruhig mal anstreichen. Nein, dann beginnt keine neue Zeitrechnung. Dafür wird aber eine der zentralen Diskussionen rund um das E-Bike-Fahren offiziell auf eine neue Stufe gehoben. Es geht um die Frage: Welche Reichweite kann ich von meinem E-Bike erwarten?
Bisher gab es darauf eine Antwort der Fahrradhersteller und Händler. Diese beruhte auf eigenen Tests, Berechnungen, Hypothesen oder auch kreativen Eingebungen. In wenigen Wochen wird mit dieser Praxis gebrochen. Dann tritt die DIN/TS 31064 in Kraft. Kern dieser Norm ist der Reichweitentest R200.
In dem werden E-Bikes einheitlich auf einen Unterstützungsfaktor von 200 Prozent normiert. Zusätzlich reguliert er die gesamten Rahmenbedingungen. Dazu zählen die Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 km/h, eine Trittfrequenz von 60 Umdrehungen pro Minute sowie weitere Faktoren wie unter anderem das zugelassene Maximalgewicht des Fahrrades, die Beschaffenheit des Untergrundes, die Art des Geländes, Windrichtung und -geschwindigkeit als auch die Häufigkeit des Anfahrens.
Geben Hersteller und Händler Reichweiten an, die sich im Zweifelsfall nicht durch den R200 bestätigen lassen und damit der Norm widersprechen, riskieren sie zivilrechtliche Klagen und vielleicht sogar teure Rückrufaktionen. Was ihr genau erwarten könnt, wollten wir von Ernst Brust wissen. Er ist nicht nur Geschäftsführer Technik beim Zweirad-Industrie-Verband (ZIV), sondern hat zudem von Anfang an aktiv an der Erstellung der Norm mitgearbeitet.
Herr Brust, warum sahen Sie überhaupt Handlungsbedarf?
In der Vergangenheit haben viele Hersteller ihre Produkte falsch ausgelobt. Erst recht mit Blick auf Reichweite, weil die vielen Verbrauchern enorm wichtig ist. Irgendwann haben sich die Hersteller beinahe unaufhaltsam gegenseitig überboten. Los ging es mal mit 100 Kilometern an Reichweite. Ohne weitere Erklärung dazu. Der Nächste stellte 120 Kilometer in den Raum, 160 und 200. Dann gab es den Trend, Bereiche anzugeben, also beispielsweise von 100 bis 160 Kilometer. Die ganz Schlauen haben bis zu 160 Kilometer angegeben. Mir sind Werbungen begegnet, die eine Reichweite von bis zu 250 Kilometer und sogar bis 450 Kilometer versprechen. Einflussfaktoren wie zulässiges Gesamtgewicht, Reifenluftdruck, Wirkungsrad des Motors und Ähnliches kamen da überhaupt nicht zur Sprache. Insofern war klar, dass wir für mehr Vergleichbarkeit sorgen müssen.
Wie haben die Unternehmen diese Idee aufgenommen?
Zunächst ohne große Begeisterung. Letztendlich siegte doch die Einsicht, dass eine Norm Vorteile für alle Beteiligten bedeuten würde.
Was genau besagt die Norm?
Ausgangspunkt ist die Unterstützung um das Zweifache. Wenn Sie beispielsweise selbst 70 Watt leisten, unterstützt sie der Motor mit zusätzlichen 140 Watt. Zudem geht die Norm davon aus, dass eine Steigung von sechs Prozent gefahren wird. Solange, bis der Akku leer ist. Das ist absichtlich einfach genug gehalten, damit das jeder Hersteller in Eigenregie nachstellen kann. Dazu braucht es lediglich einen kalibrierten Prüfstand. Was bedeutet das in der Praxis dann genau? Bei einer Kapazität von 490 Wattstunden muss zum Beispiel die Reichweite mindestens 70 Kilometer betragen.
Wer hat alles an der Erarbeitung der Norm mitgewirkt?
Alle neun zum ZIV gehörigen Motorenhersteller, der Verband selbst, Prüfinstitute sowie der gesamte DIN-Normenausschuss Sport- und Freizeitgerät mit Vertretern des Verbraucherschutzes, der Wissenschaft und anderen. Insgesamt waren das 39 Beteiligte. Im Prinzip aus der ganzen Fahrradwelt.
Wie bindend ist die Norm?
Nun, es handelt sich nicht um ein Gesetz. Folglich muss sich kein Hersteller daran halten. Vor Gericht haben sie mit Werten, die nur schwer belegbar sind, allerdings schlechte Karten. Als Sachverständiger sind mir genug Fälle begegnet, in den Verbraucher konsequent von ihrem Recht Gebrauch gemacht und gegen Hersteller und Händler erfolgreich prozessiert haben.
Sie haben die Fülle an Faktoren angesprochen, von denen die Reichweite abhängt. Produzenten von Motoren und Akkus liefern am Ende jedoch nur Teile eines Komplettsystems. Wer steht hier eigentlich wie stark in der Pflicht bei der Angabe verlässlicher Werte?
In der Tat gibt es hier große Unterschiede. Hersteller wie Bosch, die Motoren und Akkus anbieten, können gesamtheitliche Aussagen treffen. Ein Unternehmen wie Brose verfügt dagegen nicht über unzählig viele Daten zum Verhalten seines Motors mit den diversen Akkus. Andersherum hat ein Akkuhersteller wie BMZ keinen Einfluss auf den Wirkungsgrad der Motoren. Für die Reichweite ist das jedoch mit ausschlaggebend. Daher ist am Ende der Fahrradhersteller in der Pflicht. Er bietet das komplette System an und kann dies am besten messen. Parameter wie das Profil der Reifen oder die Reifenbreite können Akteure wie Bosch, Brose oder BMZ in ihren Angaben gar nicht berücksichtigen.
Was schätzen Sie, wie viele Hersteller können aktuell die für die DIN nötigen Tests in Eigenregie durchführen?
Momentan etwas wenig. Vermutlich rund 20 Prozent. Richten müssen sich allerdings alle danach. Und zwar bevor sie irgendwelche Angaben machen. Wer das nicht selbst stemmen kann, muss eben auf Prüfinstitute zugehen, die solche Aufgaben übernehmen. In der Norm sind die Anforderungen exakt definiert. Theoretisch könnte sich jeder Hersteller dies als Blaupause nehmen und einen eigenen Prüfstand bauen.
Sie waren selbst jahrelang Geschäftsführer eines Prüfinstitutes und haben sicher noch den Einblick in die „Szene“. Laufen da gerade mehr entsprechende Aufträge auf?
Ja, das ist auf alle Fälle so. Vor allem, was Lastenräder betrifft.
Wie können Menschen, die ein E-Bike oder ein Akku kaufen, konkret von der Norm profitieren?
Die Verbraucher werden aufgeklärt. Ein R200 nennt ganz konkrete Größen. Das können die Leute vergleichen. Stellen sie nach dem Kauf fest, dass die Reichweite weit unterhalb der Vorgabe liegt, können sie Klage einreichen. Vorher kam es auf den Richter und das Gutachten an. Jetzt ist das alles viel verlässlicher geregelt.
Wie erfahren die Verbraucher überhaupt von der Norm und deren Gültigkeit ab Juli dieses Jahres?
Beteiligte wie der Allgemeine Deutsche Fahrradclub ADFC oder das Deutsche Institut für Normung selbst werden auf ihren Kanälen die Verbraucher darüber informieren. Abgesehen davon können die Hersteller natürlich damit werben. Aus meiner Sicht müssen sie das auch.
Sie haben bereits erwähnt, dass jedoch nur ein geringer Teil der Hersteller die Tests selbst durchführen können und damit wohl auch schon durchgeführt haben. Zu Beginn wird es also erst einmal viele Lücken geben. Wann bessert sich die Situation?
Für die Modelle der Saison 2021 ist die Messe gesungen. Da passiert nichts mehr. Mit Blick auf das Modelljahr 2022 muss sich das ändern. Da sollten die Hersteller auch genügend Optionen haben, sich danach zu richten. Zur Wahrheit gehört natürlich auch, dass die Norm nicht von heute auf morgen entstanden ist. So gesehen, dürfte eigentlich niemand von der Situation überrascht sein.
Befürchten Sie, dass die Hersteller, die dennoch hinterherhinken, nun die Reichweite verschweigen, um sich nicht angreifbar zu machen?
Nein. Zumindest alle im ZIV versammelten Hersteller wollen die Reichweite angeben. Natürlich kann auch jetzt ein Hersteller noch sagen: Die Norm juckt mich nicht, ich lobe weiterhin 200 Kilometer Reichweite aus. Dann muss er aber mit der Reaktion der Verbraucher rechnen.
Werden uns derartige Übertreibungen von Herstellern oder Händlern künftig immer noch begegnen?
Das würde mich überraschen. Wer das tut, wird sein blaues Wunder erleben. Alles andere wäre auch unfair gegenüber denjenigen, die ihre Produkte der Norm folgend korrekt ausloben.
Herr Brust, vielen Dank für das Gespräch.
Bilder: ZIV, velotech.de GmbH