Lemo One: Einmal E-Bike und zurück

Als 2017 Fazua mit seinem Evation-Antrieb in Serie ging, brachen gängige Denkmuster auf. Plötzlich war ein und dasselbe Fahrrad wahlweise als E-Bike oder als herkömmliches Fahrrad fahrbar. Entscheiden konnten das die E-Bike-Fahrenden selbst – je nach Laune und Situation. Auf der Eurobike 2022 in Frankfurt griff Lemo diese Idee auf, bot neben dem Antrieb aber auch gleich das eigene Fahrrad dazu an. In wenigen Tagen eröffnet der bisher hierzulande unbekannte Hersteller seinen ersten Laden außerhalb von China – mitten in Berlin. Ab dann könnt ihr dort ein solch wandelbares Gefährt direkt abholen.

Das Lemo One reiht sich nahtlos ein in die Phalanx sportlich angehauchter, eher minimalistisch konzipierter E-Bikes für die urbane Umgebung, die Marken wie Ampler, Cowboy, Modmo, Urwahn oder Vanmoof maßgeblich prägen. Konkurrenz ist also zahlreich vorhanden. Da braucht es schon es ein gewisses Extra, um in diesem sehr attraktiven und hart umkämpften Segment Fuß zu fassen. Und tatsächlich bringt das Lemo One jenes Extra mit. In dem E-Bike steckt gleichzeitig ein herkömmliches Fahrrad. Beziehungsweise könnt ihr das Lemo One initial auch ohne E-Antrieb kaufen und später um die elektrische Komponente erweitern. Das hat seinen Preis, gelingt aber bemerkenswert bequem.

Lemo One E-Bike

Freilauf oder Motor?

Für diese Verwandlung verantwortlich sind im Wesentlichen zwei Komponenten – die Hinterradnabe sowie ein im Rahmendreieck zwischen Ober- und Unterrohr ansteckbarer Akku. In der Nabe befindet sich ein Motor, ähnlich wie bei Antrieben von Mahle, FSA, Giant und anderen. Dieser hier lässt sich jedoch über eine Kupplung von der restlichen Nabe entkoppeln. In dem Moment wird daraus ein ganz gewöhnlicher Singlespeed-Freilauf. Angelehnt an die Funktion spricht Lemo vom E-Bike-Modus und dem M-Bike-Modus, wobei M-Bike vermutlich wie Abkürzung für den englischen Begriff „muscle bicycle“ sein dürfte.

Hinterradnabenmotor mit Doppelkupplung

Beim Kuppeln seid ihr gefragt. Dafür hat Lemo auf der Nicht-Antriebsseite einen Knauf an der Hinterradachse angebracht. Den zieht ihr zu euch heran und dreht ihn im Uhrzeigersinn um 90 Grad. So wechselt die Nabe vom M-Bike- in den E-Bike-Modus. Herausziehen und eine Drehung um 90 Grad in die entgegengesetzte Richtung bewirkt das Gegenteil. Wie leichtgängig und dauerhaft zuverlässig das funktioniert, können wir erst sagen, nachdem wir das Bike selbst testen konnten. In der Theorie klingt das zumindest einfach umsetzbar.

Welcher Hersteller sich genau hinter der Nabe verbirgt, geht aus den Informationen von Lemo nicht hervor. Die Marke gehört zu einem Unternehmen namens Hypaths Limited, das in der Nähe von Shanghai angesiedelt ist. Daher liegt die Vermutung nahe, dass es sich letztendlich um ein chinesisches Produkt handelt. Der Motor leistet die üblichen 250 Watt im Dauerbetrieb und verfügt über ein Drehmoment von 40 Newtonmetern. Rein zahlenmäßig liegt das auf dem Niveau des X35+ von Mahle, des HM 1.0 von FSA und des MRC-E250 von Hyena.

An dem grünen Knauf lässt sich zwischen E-Bike-Modus und M-Bike-Modus hin und her wechseln.

Mehr als nur ein Akku

Seinen Strom bezieht der Nabenmotor aus einem Akku, den Lemo das Smartpac nennt. Die darin enthaltenen Lithium-Ionen-Zellen liefern eine Gesamtkapazität von 540 Wattstunden. Laut Hersteller soll dies eine Reichweite von rund 100 Kilometer in der niedrigsten Unterstützungsstufe bei optimalen Bedingungen ermöglichen.

Der Begriff Akku wird dem Smartpac aber nur in Ansätzen gerecht. Nicht umsonst hat Lemo den Energiespeicher in ein sehr hochwertig anmutendes Stoffgewand gekleidet. Dessen Bezug könnt ihr sogar abnehmen und waschen. Das Smartpac leistet euch nämlich auch daheim oder auf Arbeit gute Dienste. Über seine USB-A und USB-C Ladebuchsen lassen sich diverse mobile Geräte betreiben. Und weil der Multitasker so nett verpackt ist, braucht ihr ihn nicht etwa unter dem Schreibtisch verstecken.

Smartpac im Einsatz als Ladestation für mobile Geräte

Zusätzlich steckt im Smartpac die gesamte Elektronik für die Motorsteuerung, den 4G-Funk für das GPS-Tracking sowie für die Over-the-air-Firmwareupdates. Am Fahrrad schiebt ihr in auf einer Schiene in das vordere Rahmendreieck, wo er außerdem an einer Aufnahme am Steuerrohr einrastet. Nehmt ihr das Gerät ab, könnt ihr es an einer Handschlaufe mit euch herumtragen. Aber Vorsicht, trotz der drei Kilogramm am Handgelenk immer schön lässig lächeln 😉

Auf einer Schiene wird der Smartpac in das Rahmendreieck nach vorn geschoben.

Der Zahn der Zeit

Geladen wird das Smartpac mit einem 4A-Ladegerät innerhalb von dreieinhalb Stunden. Später wird Lemo optional ein Schnellladegerät mit einem Strom von sieben Ampere anbieten. Dann leuchten alle Lichter bereits nach zwei Stunden grün auf. Etwas ernüchternd – oder vielleicht auch nur transparenter im Vergleich zu anderen Herstellern – ist die Ankündigung, dass die Nutzungsdauer des Smartpac als Akku für das E-Bike zwischen drei und fünf Jahren liegen soll. Danach sei die Akkukapazität auf 80 Prozent des ursprünglichen Niveaus gesunken und für diese Anwendung nicht mehr vollends geeignet.

Als Powerbank erfüllt das Smartpac sicher noch weit länger seinen Zweck – wenn dann auch vielleicht nur stationär. Ansonsten kann es zu einem gewissen Grad wiederverwertet werden. Für ein neuwertiges Smartpac werden aktuell 900 Euro fällig. Zur besseren Einordnung. Das komplette Lemo One kostet als E-Bike derzeit 1.990 Euro.

Wie angedeutet, ist das übrige E-Bike-System verhältnismäßig einfach gestaltet. Bedienen lässt es sich über zwei Button links und rechts am Lenker. Per Knopfdruck schaltet ihr die StVZO-konforme Beleuchtung an und wechselt zwischen den verschiedenen Unterstützungsstufen. Sobald das E-Bike mit der App gekoppelt ist, könnt ihr mithilfe der Buttons zudem eine in der Nabe integrierte Wegfahrsperre auslösen.

Hält auch ohne Nähte

Besondere Erwähnung verdient der aus Aluminium gefertigte Rahmen. Warum? Weil ihr an dem vergeblich nach Schweißnähten suchen werdet. Dieser Rahmen wird nämlich geklebt und nicht geschweißt. Das Verfahren könnte ein Hinweis auf eine besonders feste, leichte Legierung sein, zu der Lemo greift und die sich aufgrund ihrer Materialeigenschaften nicht mehr per Schweißen bearbeiten lässt. Davon profitiert in erster Linie die Optik des Fahrrades. Das verfügt plötzlich über die Eleganz eines Carbonrahmens, an dem die Linien ohne jeden Übergang ineinanderfließen.

Seitens der Produktion eröffnet das wohl auch einige Vorteile. So entfällt zum Beispiel das Behandeln der Schweißnähte. Wenn auch in der Fahrradbranche eher selten gilt das Kleben selbst bei Aluminium als etabliertes Verfahren, das aus der Luft- und Raumfahrt oder der Automobilbranche nicht mehr wegzudenken ist.

Zwei unterschiedliche Rahmenformen bringt Lemo fürs Erste an den Start. Neben dem klassischen Diamantrahmen gibt es auch eine Trapez-Variante mit einem niedrigeren Einstieg. Für zwei Rahmengrößen – L und XL – hat es jedoch nur beim Diamantrahmen gereicht.

Für fast alles gewappnet

Noch übersichtlicher geht es bei Antrieb zu. Einzige Option ist hier aktuell eine 10-Gang-Kettenschaltung von Shimano. Manchen ist die für den Stadtverkehr eventuell überdimensioniert. Aber zum einen bietet die Kassette Ritzeln mit elf bis 42 Zähnen ein genügend großes Spektrum, mit dem ihr auch ausgedehntere Touren in Angriff nehmen könnt. Zum anderen hat Lemo schon eine Singlespeed-Variante angekündigt, die von einem Gates-Riemen angetrieben werden soll.

Wann genau eines Version des Lemo One mit Singlespeed und Riemen-Antrieb kommt, ist derzeit noch unklar.

Darüber hinaus ist das Lemo One absolut solide ausgestattet. Die Schutzbleche verfügen über einen integrierten Gepäckträger, an dem ihr leichte Gepäcktaschen anhängen könnt. Das serienmäßige Rücklicht signalisiert eure Bremsmanöver und der Frontscheinwerfer lässt sich sogar aus dem Rahmen entnehmen und als Taschenlampe nutzen.

Wer im Lemo One ein E-Bike für sich entdeckt hat, kann es momentan auf der Internetseite des Herstellers vorbestellen und im bald in der Nähe des Alexanderplatzes eröffneten Laden abholen. In andere Städte und Länder kann Lemo nach eigener Angabe erst ab Februar 2023 ausliefern.

Rund eine Woche vor der Eröffnung lässt sich nur erahnen, wie der Laden am Berliner Alexanderplatz künftig aussehen wird.

Lemo One im Überblick

• Rahmen: Aluminium 6061, pulverbeschichtet
• Varianten: Lemo One Bike, Lemo One E-Bike
• Motor: Hinterradnabenmotor, 250 Watt
• Akku: Lemo Smartpac, 540 Wh
• Display: LCD-Display im Oberrohr
• Bedieneinheit: zwei Buttons am Lenker
• Antrieb: Shimano Deore, Singelspeed mit Gates CDX Riemen (angekündigt)
• Bremsen: hydraulische Scheibenbremse mit vier Bremskolben, Rotor 160 mm
• Farben: Sand, Grau
• Maximal zulässiges Gesamtgewicht: 140 kg
• Gewicht: 18 kg (mit Akku)
• Preis: 1.990 Euro (mit Akku)

Bilder: Hypaths GmbH