Die Marke Ibis Cycles und ihr Gründer Scot Nicol zählen zu den absoluten Urgesteinen der Mountainbike-Szene. Ende der 1970er Jahre stürzte sich Nicol zusammen mit anderen waghalsigen Hippies auf mitunter schrottreifen Clunker-Bikes den Mount Tamalpais hinunter und schuf die Basis für den Sport, den wir heute Mountainbiking nennen. Gleichzeitig ließ er sich von Pionieren wie Joe Breeze und Charlie Cunnigham in die Kunst des Rahmenbaus einführen. Mehr als vierzig Jahre später schreibt Ibis nun ein neues Kapitel seiner ganz eigenen Geschichte. Es handelt von E-Bikes, wird diesmal aber nicht von Vorreitern erzählt. Angesichts eines hohen Carbon-Anteils und einer innovativen Anleihe an den Motorcross verspricht es dennoch jede Menge Spannung.
Bekanntes Muster
Ibis hat gerade sein erstes E-Bike überhaupt präsentiert, das Ibis Oso. Und fast möchte man sagen: Sie haben es schon wieder getan. Nein, gemeint ist nicht die Sache mit der elektrischen Unterstützung. Wie gesagt, dies ist eine Premiere für das Unternehmen aus dem kalifornischen Santa Cruz. Vielmehr geht es um die Geduld, die der Hersteller bei der Entwicklung bewiesen hat.
Schon zu Beginn der 2000er-Jahre lag darin eines der Erfolgsgeheimnisse von Ibis. Damals galt es aus einer Pleite mit einem echten Knaller zurück auf den Markt zu kommen. Auf der Interbike 2005 stellte Ibis mit dem Mojo das erste vollgefederte Mountainbike vor, dessen aus Carbon gefertigter Hauptrahmen aus einem einzigen Stück bestand. Insgesamt drei Jahre hatten Chef-Designerin Roxy Lo und die restlichen Mitarbeitenden an der Umsetzung dieser Idee getüftelt. Leicht modifiziert, bestimmt die heute noch den Look der meisten Mountainbikes von Ibis.
Die Nummer 1 ist die Nummer 3
Das Mojo verlieh der Marke neue Strahlkraft, die letztendlich auch erst das neue Oso ermöglicht hat. In dem E-Mountainbike stecken sogar sechs Jahre an Entwicklungsarbeit. Ist dafür lediglich ein einziges Fahrrad nicht ein recht bescheidenes Ergebnis? Vielleicht. Tatsächlich hat Ibis in der Zeit jedoch drei komplette E-Bikes auf die Beine gestellt. Allerdings sind die ersten beiden direkt wieder in den Papierkorb gewandert. Nicht inspirierend genug. Zu weit von den eigenen Ansprüchen entfernt. Erst der dritte Anlauf konnte intern alle überzeugen.
Für das sehr organisch wirkende Design zeichnete erneut Roxy Lo verantwortlich. In einer Welle fließen Oberrohr und Hinterbau harmonisch ineinander. Motor und Dämpfer schmiegen sich an diese Linien an, anstatt selbst den Rahmen in eine bestimmte Form zu zwingen. Unverkennbar trägt dieses Konzept die Handschrift von Lo.
Eine Frage des Vertrauens
An manchen Stellen erfordert das enormes Knowhow bei der Fertigung des Carbon-Rahmens. Etwa bei dem unteren Teil des Sitzrohres. Das verjüngt sich zu einem Bogen, durch den der Dämpfer geführt wird. An seiner schmalsten Stelle ist dieser Bogen nur wenige Millimeter breit. So nahe am Tretlager muss der Bereich dennoch großen Kräften standhalten. Trotzdem scheut sich Ibis nicht, selbst dort extra Kanäle für die Lichtkabel zu integrieren. Das spricht für ein hohes Vertrauen in das eigene Material und die Qualität der Produktion. Mit Beginn der Corona-Pandemie hat Ibis damit begonnen, einen Teil seiner Carbon-Fertigung zu sich an den Stammsitz zu verlagern. Anscheinend zahlt sich diese Maßnahme unter anderem beim Oso aus.
Das Erscheinungsbild des Premieren-E-MTB wird maßgeblich durch den ungewöhnlichen Hinterbau geprägt. Zu dem könnte man auch gut und gerne Schwinge sagen. Schließlich ist die Parallele zum Cross-Motorrad unverkennbar. Ja, diese Idee haben bereits andere Fahrradhersteller verfolgt. Erinnert sei zum Beispiel an das San Andreas von Mountain Cycle und das Honda RN01 aus den 1990er Jahren. Aber mit einer Single-Pivot-Schwinge in Kombination mit dem DW-Link-System setzt das Ibis Oso neue Maßstäbe.
Ersten Fahrberichten zufolge soll vor allem das Bergan-Fahren eine echte Offenbarung sein. Die Tester loben die ausgesprochen gute Traktion des Fahrrades. Klar, je besser der Kontakt zum Boden, umso schneller geht’s bergauf. Zumal der Hinterbau wohl auch hervorragend die Kräfte während des Pedalierens ausgleicht. Gleiches gilt für die seitlichen Kräfte während des Kurvenfahrens. Insgesamt scheint die Konstruktion sehr robust ausgefallen zu sein, dabei sowohl Laufruhe als auch eine gleichzeitig überraschende Agilität zu vermitteln.
Individualität wird großgeschrieben
Deutlich wird in jedem Falle, wie viel Aufmerksamkeit Ibis einer möglichst ausgewogenen Position auf dem Rad schenkt. Von der sollen alle profitieren, unabhängig von ihrer jeweiligen Körpergröße. Deshalb geht der Hersteller sehr diffizil mit Rahmengrößen um. In jeder der vier Rahmengrößen S, M, L und XL werden entscheidende Faktoren wie die Länge der Sitzstreben und der Sitzwinkel individuell angepasst. Daraus ergibt sich, dass ihr in jeder Rahmengröße anteilig denselben Teil des Fahrrades vor beziehungsweise hinter euch habt. Was bedeutet das? Nun, bei einem identischen Sitzwinkel würde jemand in der Rahmengröße XL und einer entsprechend längeren Sattelstütze beispielsweise tendenziell weiter hinten auf einem Fahrrad sitzen, als jemand bei einer Rahmengröße S. Das Fahrgefühl wäre ein gänzlich anderes. Solche Effekte verhindert Ibis mit seinen abgestimmten Geometrien.
Natürlich gibt es auch unter annähernd gleich groß gewachsenen Menschen unterschiedliche Vorlieben. Selbst darauf hat der Hersteller eine Antwort. Grundsätzlich liegt das Oso irgendwo zwischen den Kategorien Enduro und All Mountain. Serienmäßig beträgt der vordere Federweg 170 Millimeter, während es am Hinterbau 155 Millimeter sind. Wer das Pendel klar in Richtung Enduro ausschlagen lassen möchte, kann dies tun. Die Rahmen sind auf längere Federwege ausgelegt und dafür auch freigegeben. So könnt ihr am Hinterbau auch mit 170 Millimetern unterwegs sein und vorn eine Doppelbrückengabel mit maximal 190 Millimetern fahren.
Bosch sticht alle Mitbewerber aus
Für die Wahl des passenden E-Antriebes hat Ibis nach eigener Aussage alle auf dem Markt befindlichen Systeme getestet. Wenn dem wirklich so ist, dürfte das einige Zeit gedauert haben. Am Ende ist die Wahl auf Bosch und dessen Smart System gefallen. Das System habe sich am natürlichsten im Oso angefühlt. Vor allem unter dem Aspekt, wie harmonisch die Motorunterstützung einsetzt als auch sich verabschiedet, wenn man über die Grenze von 25 km/h hinausfährt.
Zudem wollte Ibis bei seinem E-Bike das „E“ nicht kaschieren. Aus Sicht des Herstellers ist solch ein Fahrrad ein ganz anderes Kaliber als eines ohne Hilfsmotor. Daher sollte es seine Andersartigkeit auch gar nicht verstecken müssen. Zumal spätestens das Fahren mit einem E-Bike eben auch eine andere Hausnummer ist, als mit einem herkömmlichen Fahrrad. Erst recht, wenn einen der Performance Line CX mit seinen 85 Newtonmetern an Drehmoment und Leistungsspitzen von mehr als 600 Watt anschiebt.
Details machen den Unterschied
Am Beispiel des Akkus stoßt ihr erneut auf den Einfallsreichtum, mit dem viele kleinere Marken wie Ibis punkten. Der Hersteller hat eine eigene Arretierung für den Akku entworfen. Der wird im Rahmen von einer Art Steckachse gehalten und sitzt damit, Verzeihung, bombenfest. Die Konstruktion ermöglich zugleich das seitliche Herausnehmen des Akkus, was oftmals einfach unkomplizierter ist als die Entnahme nach unten. Wichtige Randnotiz: In der kleinsten Rahmengröße ist lediglich Platz für den PowerTube 625. Ansonsten dürft ihr euch auf den PowerTube 750 freuen.
Ebenfalls alles anders als gewöhnlich ist die Ausstattung mit einer kompletten Lichtanlage an einem solchen Fahrrad. Kaum ein echtes E-MTB wartet damit heutzutage auf. Dabei sprechen zahlreiche Argumente dafür. Es lässt sich aus dem Stand weg auch auf hiesigen Straßen damit fahren. Ihr braucht keine Touren abbrechen, weil die Dunkelheit hereinbricht. Die nötige Energiequelle ist bereits verbaut. Und für andere Leute werdet ihr besser sichtbar. Einziger Kritikpunkt an dem System von Lupine ist allenfalls der Frontscheinwerfer. Die Ausleuchtung der SL Nano reicht vermutlich nicht, um im Dunkeln in unbekannten Terrain in Höchstgeschwindigkeit die Trails herunterzujagen.
Ibis Oso im Überblick
- Rahmen: Carbon
- Federgabel: Fox Performance Series Float 38
- Motor: Bosch Performance Line CX
- Akku: Bosch PowerTube 750, Bosch PowerTube 625
- Display: Bosch Kiox 300
- Antrieb: Sram GX Eagle
- Bremsen: Shimano XT M8120
- Maximal zulässiges Gesamtgewicht: 150 kg
- Farben: Mint Chip und Old Blue Ford
- Preis: $10.999
Bilder: Ibis Cycles Inc.