Ihr kennt sicher das Henne-Ei-Paradoxon und die damit verbundene Frage nach Ursprung und Folge. Das E-Lastenfahrrad Capsule MT des französischen Herstellers Kiffy ist ein Sinnbild für genau dieses Paradoxon. Es kam im vergangenen Jahr auf den Markt. Zu der Zeit erhielt die weltweite Fahrradindustrie nur noch tröpfchenweise Nachschub aus Asien. Kiffy lässt jedoch Rahmen, Laufräder, Kurbeln, Lichtanlage sowie große Teile des Zubehörs in Frankreich fertigen. Somit gilt Lieferengpass für dieses Unternehmen eher als Fremdwort. Ob dieser Ansatz der Produktion vor Ort bereits vor der Krise vorhanden war oder erst im Angesicht der Notlage entstand, können wir nicht auflösen.
Für das Fahrrad selbst ist das glücklicherweise nur zweitrangig. Es handelt sich um ein Longtail, also ein einspuriges Cargobike, bei dem ihr euer Transportgut hauptsächlich auf dem verlängerten und verstärkten hinteren Gepäckträger platziert. Von diesem Typ Lastenrad tummeln sich inzwischen etliche auf dem Markt. Daher muss sich Kiffy als international noch recht unbekannte Marke einiges einfallen lassen, um in diesem Wettbewerb erfolgreich zu bestehen.
Für Waren und Personen geeignet
Wirklich einzigartige Details sind auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Allerdings hat der Hersteller anscheinend sehr genau darauf geachtet, was bereits an anderen Longtails gut funktioniert. Das beginnt mit dem im Rahmen eingearbeiteten Gepäckträger. Diese Herangehensweise erlaubt es den Konstrukteuren meist, die Aspekte des Lastentransports umfassender in das Design des Fahrrades einfließen zu lassen. Außerdem hält ein solcher Gepäckträger in der Regel höheren Belastungen stand, als ein nachträglich angebauter.
Daher verwundert es nicht, dass der hintere Gepäckträger für Lasten von bis zu 100 Kilogramm zugelassen ist. Gleichzeitig ist er mit 73 Zentimetern lang genug, um größere Dinge aufzuladen. Auf das Befördern von Kindern übertragen bedeutet dies, dass genug Platz für zwei hintereinander angebrachte Kindersitze bleibt. Alternativ lässt sich die Fläche mithilfe von zwei Sitzkissen in eine Sitzbank verwandeln. Auf diese passen dann zwei größere Kinder oder eine erwachsene Person.
Mit dem Wettbewerb auf Augenhöhe
An dem aus Aluminium gefertigten Rahmen ist vorn am Steuerrohr ein serienmäßiger massiver Frontgepäckträger montiert. Der verträgt weitere 15 Kilogramm an Gepäck. Insgesamt beträgt das maximal zulässige Gesamtgewicht des Capsule MT damit 200 Kilogramm. Im Vergleich zu Mitbewerbern wie dem Moustache Lundi 20, dem Tern Quick Haul oder dem Yuba Kombi E5 ist das beträchtlich. Lediglich das Tern GSD oder das Bergamont E-Cargoville LT können an der Stelle mithalten. Von den genannten 200 Kilogramm entfallen rund 28,5 Kilogramm auf das eigentliche Lastenrad. Ausgenommen sind in der Rechnung allerdings die Kindersitze, Sitzbank, Trittbretter oder Gepäcktaschen.
Wie bereits angedeutet, fertigt Kiffy den Fahrradrahmen komplett in Frankreich – und das zu 100 Prozent in Handarbeit. Zusätzlich gibt es darauf eine lebenslange Garantie. Laut Hersteller können Menschen mit einer Körpergröße zwischen 155 Zentimeter und 200 Zentimeter bequem darauf fahren. Anhand des fast senkrecht verlaufenden Sitzrohres könnt ihr erahnen, dass die Sitzposition ziemlich aufrecht ausfallen dürfte. Kiffy lehnt sich absichtlich an den Stil eines Hollandrades an. Das sei ganz im Sinne der Zielgruppe. Ob das für euch genauso gut passt, zeigt wohl erst eine Probefahrt mit dem Bike. Die Gesamtlänge von 185 Zentimetern suggeriert auf alle Fälle ein agiles Fahrgefühl. Schließlich misst ein herkömmliches E-Bike ähnlich lang. Folglich solltet ihr auch angesichts der 20 Zoll großen Laufräder auf dem Capsule MT sehr gut manövrieren können. Zumal es keinen extra Eingewöhnungsprozess bedarf, wie das beim Umstieg auf ein Longjohn der Fall sein könnte.
Noch nicht in jedem Detail vollkommen ausgereift
Dass Kiffy mit dem Capsule ein Stück weit Neuland betritt, wird beim Blick auf den elektrischen Antrieb deutlich. Für diesen Eindruck sorgt in erster Linie die etwas ungelenk wirkende Integration des Motors in den Rahmen. Bei Herstellern wie Tern und Co. fügt sich das stimmiger in die übrige Linienführung ein. Am Capsule sitzt der Motor zwar schön tief, was für einen recht tiefen Schwerpunkt sorgt und das Handling des Bikes positiv beeinflusst. Optisch fühlt man sich allerdings eher an einen Fremdkörper erinnert, der nicht so recht in das restliche Bild passt.
Kleinere Abstriche müsst ihr neben der Optik auch in Bezug auf die eigentliche Technik machen. Der verbaute Performance Line ist ein Motor aus Boschs dritter Generation und damit etwas in die Jahre gekommen. Wer von euch in einer bergigen Gegend wohnt, wird sich schnell mehr als dessen verfügbare 65 Newtonmeter an Drehmoment wünschen. Gerade vor dem Hintergrund der gleichzeitig hohen Last, die ihr mit dem Capsule bewegen könnt, erscheint das ein wenig bescheiden. Gleiches gilt für die Akkulösung. Hier könnt ihr zwischen Bosch PowerPacks mit 400 Wattstunden sowie 500 Wattstunden wählen. Grundsätzlich geht das vollkommen in Ordnung. Allerdings vermisst man die Option für einen zweiten Akku, um so die Reichweite entsprechend zu vergrößern. Daher könnt ihr maximal mit 110 Kilometern rechnen. Wobei sich Kiffy mit dieser Angabe wohl eher auf ein unbeladenes Bike bezieht.
Viel drin und dran
Was uns gefällt, ist der Griff zu einer Kettenschaltung. Mit deren zehn Gängen lässt sich ein Teil der fehlenden Spritzigkeit und Ausdauer des E-Bike-Systems wettmachen. Vorausgesetzt, ihr bringt die dafür nötige eigene Fitness mit. Aber das Spektrum des Ritzelpaketes ist relativ groß und die Suche nach der passenden Übersetzung damit deutlich leichter. Aus der hoffentlich rasanten Fahrt bringen euch hydraulische Scheibenbremsen des hierzulande etwas unbekannteren britischen Hersteller Clarks zum Stehen. Deren Bremsscheiben messen im Durchmesser jeweils 160 Millimeter. Das könnten auch gern 180 Millimeter sein. Wenn 200 Kilogramm abgebremst werden müssen, ist jedes Mehr an Bremswirkung hilfreich.
Die restliche Grundausstattung weiß dagegen absolut zu überzeugen. Die Federgabel mit 70 Millimetern an Federweg rundet den Ansatz für ein eher entspanntes, sehr bequemes Fahrgefühl ab. Da es den Rahmen nur in einer Größe gibt, führt auch am höhenverstellbaren Vorbau kein Weg vorbei. Für Schutzbleche, den Frontgepäckträger, den Zweibeinständer als auch die komplette Lichtanlage zahlt ihr ebenfalls nichts extra.
Und wer noch weitere Wünsche hat, wird vielleicht in dem optionalen Zubehör fündig. Dort liegt der Schwerpunkt ganz klar auf dem Befördern von Kindern. Ihr könnt metallene Trittbretter bestellen, die das Aufsteigen auf den Gepäckträger erleichtern. Außerdem finden sich im dem Angebot Thule Yepp Maxi Kindersitze. Den großen Gepäckträger hat Kiffy ganz gezielt auf dieses Modell ausgerichtet. Die Rohre sind so angeordnet, dass ihr die Sitze im Handumdrehen einklicken könnt. Die erhältliche Reling ist dagegen für die Nutzung des Gepäckträgers als Sitzbank gedacht.
Kiffy Capsule MT 2022 im Überblick
- Rahmen: 606-T6 Aluminium
- Farben: Pistachio Green, Mineral Blue, Pearl Grey, Yellow Mangou
- Motor: Bosch Performance
- Akku: Bosch PowerPack 500, Bosch PowerPack 400
- Display: Bosch Purion
- Federgabel: SR Suntour SF20-Mobie, 70 mm
- Antrieb: Sram GX
- Bremsen: Clarks M2
- Reifen: Schwalbe Big Ben+ 20×2.15
- Ladekapazität Gepäckträger vorn: 15 kg
- Ladekapazität Gepäckträger hinten: 70 kg
- Maximal zulässiges Gesamtgewicht: 200 kg
- Preis: ab 4.599 Euro
Hintergrund: Wer ist Kiffy?
Frankreichs Fahrradindustrie war einmal das Maß der Dinge weltweit. Das liegt aber schon einige Zeit zurück. Dennoch knüpfte Kiffy bereits mit seiner Gründung 2015 ganz bewusst an diese im 19. Jahrhundert begonnene Epoche an. Kein Wunder, denn das Unternehmen hat seinen Sitz in Saint-Etienne, einer Stadt, in der früher mehrere Firmen ihrer Fahrräder produzierten. Die regionale Nähe zum europäischen Markt ist Kiffy auch unter ökologischen Aspekten wichtig. Man möchte am liebsten alle Komponenten lokal auf kurzen Wegen produzieren und einen möglichst kleinen eigenen Co2-Abdruck hinterlassen. In der Fahrradbranche trat Kiffy erstmals mit seinem dreirädrigen Lastenrad namens Flash in Erscheinung. Seit 2019 gibt es davon auch eine Variante mit elektrischer Unterstützung. 2021 folgte dann mit dem Capsule MT das erste Longtail.
Bilder: Easy Design Technology SAS