Gelegentlich stellt sich das Gefühl ein, bei der Entwicklung neuer E-Bikes ginge es kaum noch unter einem Carbonrahmen, jeder Menge „smarter“ Elektronik und der Vernetzung des Fahrrades mit den eigenen Social-Media-Profilen. Doch weit gefehlt. Es gibt sie noch, die beinahe spartanisch, irgendwie unaufgeregt wirkenden Neuheiten auf dem Markt. Jüngstes Beispiel dafür ist ein E-Lastenfahrrad mit Stahlrahmen.
Alles andere als Mainstream
Allein der Name des Bikes ist bereits Programm: EM E22C. Keine Metaebene. Kein kreatives Buchstabenpuzzle aus Fahrradvokabular und hippem Zeitgeist. Kein unmotiviertes Herumspielen mit Sonderzeichen oder der Shift-Taste. Stattdessen eine Kombination aus Buchstaben und Ziffern, die weder etwas vom eigentlichen Produkt preisgibt, noch leicht im Gedächtnis haften bleibt.
Urheber des Namens ist das Unternehmen EMG Elektromobile aus dem westfälischen Steinhagen. Dort, vor den Toren Bielefelds, entstehen bisher vorrangig vierrädrige Elektromobile für Menschen, die keine längeren Strecken zu Fuß zurücklegen können. Folglich sind die die Zielgruppe eher ältere Personen und Personen mit körperlichen Einschränkungen. Mit dem EM E22C betritt der Hersteller also Neuland.
Reminiszenz an frühere Jahrzehnte
Das tut er natürlich nicht planlos, sondern sogar mit einem Leitmotiv: „Klassisches und elegantes Industriedesign trifft auf E-Mobilitätstechnik im Jahr 2022“. In der Praxis bedeutet dies: Ein an ein Hollandrad erinnernder Stahlrahmen erhält als Zusatz ein Nachrüstset mit elektrischem Antrieb von Pendix. Ja, ausgeklügeltes Designen am 3D-Programm inklusive 187 Iterationen ist etwas anderes. Funktionieren tut es dennoch. Und schneller fahrtüchtig ist es außerdem.
Ähnlich wie vielen anderen Fahrrädern auch, müsst ihr natürlich die Optik mögen. Wer aber ein Faible für die Ästhetik der Anfänge des Fahrradfahrens hat und geschwungene Linien im Zusammenspiel mit den schlanken Durchmessern eines klassischen Stahlrahmens hat, kommt hier definitiv auf seine Kosten. Bequemlichkeit wird großgeschrieben. Davon zeugen der breite, weit nach hinten gezogene Lenker sowie die starke Polsterung des Sattels. Über die Belastbarkeit von Stahl als Material für Fahrradrahmen ist im Grund bereits alles gesagt und geschrieben. Trotzdem ist der Rahmen des EM E22C an einigen Stellen zusätzlich verstärkt.
Leicht überdimensioniert?
Diverse massive Halterungen nehmen einen äußerst geräumigen Frontgepäckträger auf. Den könnt ihr mit bis zu 50 Kilogramm belasten. Durch das mit 20 Zoll traditionell klein gewählte Vorderrad sitzt der Schwerpunkt der Last verhältnismäßig tief. Beim Lenken mit einem vollgepackten Träger behaltet ihr so besser die Kontrolle. Gleichzeitig muss das Transportgut beim Einladen nicht so hoch hinauf gewuchtet werden.
Der hintere Gepäckträger nimmt weniger Gepäck auf. Allerdings ist er auch nur für eine Maximallast von 25 Kilogramm zugelassen. In der Praxis werdet ihr beides vermutlich nie komplett ausreizen. Zumindest nicht gleichzeitig. Insgesamt ist das Lastenrad nämlich nur für ein Gesamtgewicht von 140 Kilogramm zugelassen. Im Extremfall kämen also 75 Kilogramm an Zuladung zusammen. Hinzukommen die ungefähr 31 Kilogramm des Bikes selbst. Demnach blieben 34 Kilogramm übrig, die ihr auf die Waage bringen dürftet. Das haut hin, solange ihr ungefähr acht oder neun Jahre alt seid und mit einer Last von 75 Kilogramm durch die Gegend radeln müsst.
E-Antrieb nachgerüstet
Auch bei weniger Transportgut erweist sich das eDrive 500-System von Pendix als willkommene Erleichterung. Ähnlich übersichtlich gehalten wie das restliche Fahrrad, passt der Antrieb ganz gut zum Konzept. Zur Auswahl stehen mit Eco, Smart und Sport übersichtliche drei Unterstützungsstufen. Bei einer Unterstützungsleistung von maximal 200 Prozent der eigenen Tretleistung macht euch selbst der Sport-Modus nicht zum Überflieger. Zusammen mit den 65 Newtonmetern an Drehmoment wird das gerade im flacheren Gelände vermutlich dennoch für viele vollauf genügen.
Vom verbauten ePower 500-Akku mit seinen 497 Wattstunden könnt ihr im Eco-Modus eine Reichweite von 62 bis 120 Kilometern erwarten. Für den letzteren Wert braucht es allerdings uneingeschränkte Idealbedingungen in Bezug auf die Witterung, das Fahrrad und die Streckenbeschaffenheit. Einstellen lassen die Unterstützungsstufen am Drehrad oben auf dem Akku. Dessen LED signalisiert euch über unterschiedliche Farben, wie viel Energie noch vorhanden ist.
Überraschend vielseitig
Wenn eingangs fälschlicherweise der Eindruck entstand, dass EMG die aktuellen Nutzungsgewohnheiten eines E-Bikes ignoriere, ist dem keineswegs so. Beispielsweise ist fahren mit einer gängigen E-Bike-App auf dem EM E22C problemlos möglich. Mithilfe einer Bluetooth-Schnittstelle am Akku könnt ihr auf die kostenfreie Pendix.bike.Pro-App zugreifen. Neben den gewohnten Angaben zur Geschwindigkeit, Streckenlängen, verbleibender Reichweite etc. bietet diese zudem Navigationsfunktionen. Der Akku hält noch eine weitere kleine Überraschung parat. Er fügt über eine serienmäßige USB-C Schnittstelle. Während des Fahrens euer Smartphone aufladen – kein Problem. Solange der Akku Energie besitzt, fungiert er abseits des E-Bikes wie eine Powerbank. Das heißt, ihr könnt für einen gewissen Zeitraum auch andere Geräte damit betreiben.
Fragezeichen bei Bremsen und Schaltung
Der Pendix-Antrieb verdeutlicht gut den konzeptionellen Ansatz dieses E-Lastenrades: einfache, bewährte Technologie trifft auf zuverlässige Komponenten, was insgesamt ein gut fahrbares Ergebnis abgibt, das schnell zu beziehen ist und nicht zu stark ins Konto haut. Wenig überraschend bringt diese Herangehensweise ein paar Einschränkungen mit sich. Das wird vor allem bei den Bremsen deutlich. Vorn ist eine Trommelbremse verbaut. In Bezug auf ein Cargobike handelt es sich dabei im Grunde um ein No-Go. Diese Art von Bremsen gilt gemeinhin als nicht belastbar genug, um die Kräfte von schwerer Zuladung und elektrischem Motor langfristig zu beherrschen. Von längeren Abfahrten mit dieser Konstellation ganz zu schweigen. Die zweite Bremse ist mit einer Rücktrittbremse auch nicht unbedingt das Mittel der Wahl. An diesem Punkt wirkt das EM E22C, als sei es von seinem Ausgangspunkt aus mit den Anforderungen, die ein E-Lastenfahrrad stellt, nicht mitgewachsen.
Einige Zweifel wirft ebenso die verbaute Nabenschaltung auf. Von Shimano gibt es zum Beispiel nur drei Nabenschaltungen, die mit den Belastungen eines E-Antriebes und denen eines Lastenrades zurechtkommen. Das sind offiziell die Nexus Inter-5E Getriebenabe sowie inoffiziell die Alfine-Getriebenaben mit acht bzw. elf Gängen. EMG gibt jedoch nicht an, welche Nabe genau verbaut ist. Erwähnt wird lediglich, dass sie sieben Gänge besitzt. Damit ist es auf alle Fälle nichts Adäquates vom Weltmarktführer Shimano.
Test gefällig?
Wer jetzt dennoch neugierig geworden ist, kann dem Ganzen auch persönlich mal auf den Zahn fühlen. Grundsätzlich hat EMG das EM E22C zwar für Gewerbetreibende und Fachhändler entwickelt. Allerdings können Privatkundinnen und Privatkunden das E-Lastenrad in Steinhagen im Verkaufsshop besichtigen und probefahren. Auf den Markt kommt es laut Hersteller Anfang 2022.
Bilder: EMG Elektromobile GmbH & Co. KG